Judith Butler über Prekarität, Gefängnisse und notwendige Mobilisierungen
Die US-amerikanische Philosophin Judith Butler hielt am 6. Mai vor rund 2000 Hörer_innen die 41. Sigmund Freund Lecture im AudiMax der Uni Wien. Mit dem Augustin sprach Sie über Marx, Neoliberalismus und die Funktion des Gefängnisses.
In Ihren Arbeiten können wir einiges über die sozialen und politischen Bedingungen von Leben, über eine Ausweitung demokratischer Orientierung oder über Interdependenzen von Beziehungen lesen. Was denken Sie über die Bedingungen der Möglichkeit von Leben in ökonomischer Perspektive? Wie viel Marx fließt in Ihr Denken von Hegel ein?
Judith Butler: Bestimmt hat Marx mein Denken beeinflusst und ich gebe fast jedes Jahr ein Seminar zu Kant, Hegel und Marx im Rahmen des kritischen Theorie-Programms in Berkeley. Die frühen Werke von Marx haben großen Einfluss auf meine Arbeit, aber ebenso seine Analyse des Warenfetischismus. Ich hätte meine ersten Überlegungen zur „Naturalisierung“ von Gendernormen nicht ohne die Ausführungen von Marx und Lukács zur Verdinglichung und Naturalisierung entwickeln können. Mit dem Frühwerk von Marx beschäftige ich mich auch in Bezug auf Fragen der Anerkennung und werde das wohl in den nächsten Jahren veröffentlichen.
Die Frage des Besitzes ist nicht nur für Marx wichtig, sondern auch für Rousseau und viele andere, die denken, dass schwere Verzerrungen (distortions) in sozialen Beziehungen aus Besitzverhältnissen resultieren. Meine Arbeit über „Enteignung“ verdankt sich bis zu einem gewissen Grad der Kritik an Besitzverhältnissen, und ich bin eine jener Feministinnen, die einen Weg suchten, körperliche Autonomie auf eine Weise zu verstehen, die sich nicht auf die „Besitzrechte der eigenen Persönlichkeit“ beruft. Mein Ideal ist es, weder Besitz jemanden anderes noch von sich selbst zu sein, sondern Wege zu finden, soziale Beziehungen jenseits der Norm des Besitzes zu imaginieren und zu leben.
Das Konzept der Prekarität ist heute insofern wichtig, als es die Konditionen erhöhter ökonomischer Gefährdungen zu sterben, verletzt zu werden, krank zu sein und der Ausbeutung einschließt. So betrachtet bringt Prekarität ökonomische und soziale Analysen zusammen, ein Ausgesetztsein gegenüber einer Sicherheitsmacht und polizeilicher Gewalt. Ich war gegenüber der Unterscheidung zwischen Basis und Überbau immer schon skeptisch, besonders dann, wenn sie eine rigide Trennung zwischen Ökonomie und Kultur vornimmt. Manchmal werden aus „kulturellen“ Gründen unsere Leben riskiert, etwa im Beispiel des institutionellen Rassismus. Dieses Problem des Überlebens durchkreuzt die Domänen des Ökonomischen und des Politischen.
Meine jüngste Arbeit beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen Verschuldung und Schuld (debt and guilt), eine Thematik, die in der Kritik des Neoliberalismus zusehends wichtig wurde. Diese Arbeit sucht nach neuen Verbindungen zwischen Nietzsche und Marx.
Der Krieg gegen den Terror und der Ausschluss der Armen (an den Grenzen Europas oder in den Zentren der Großstädte) sind von Sicherheitsargumenten und dem Mythos totaler Kontrolle dominiert. Sind Subversion und das Stören der Ordnung, das Stottern und Rauschen ein Weg, Hegemonien zu verschieben? Wäre es nicht wieder einmal schön, den einen oder anderen Kampf zu gewinnen, anstatt unsere Privilegien zu verteidigen?
Judith Butler: Es ist wahrscheinlich wichtig zu erwähnen, dass Subversion als Schwerpunkt nur auf Gender Trouble (Das Unbehagen der Geschlechter, 1991) begrenzt blieb, ein Buch, das ich vor fast 25 Jahren geschrieben habe. Diese Kategorie war nicht im Zentrum meiner politischen Analysen, wie z.B. in Precarious Life (Gefährdetes Leben: Politische Essays, 2005) oder Frames of War (Raster des Krieges: Warum wir nicht jedes Leid beklagen, 2010). Ich habe das Gefühl, dass eine breite Mobilisierung nötig ist, um die wachsende autoritäre Herrschaft, die neoliberalen Politiken und Sparkurse und Formen von Rassismus (darunter Antisemitismus und Islamophobie) zu konfrontieren. Die LGBTQI-Bewegung sollte stark in diese Mobilisierungen integriert und involviert sein. Manchmal verwandeln sich diese Mobilisierungen in politische Parteien (Syriza in Griechenland ist ein Beispiel), manchmal müssen sie in einer kritischen Beziehung zu parlamentarischen Formen von Politik bleiben.
Sie kennen das akademische Leben in den USA sehr gut. Was denken Sie über die Differenzen zwischen Europa und den USA in Bezug auf Wissenschaftsinstitutionen und deren Kulturen? Selbst die österreichische Regierung und einzelne Rektoren lieben das Sprechen über Exzellenz. Was ist in Ihrer Sicht der Zweck von Institutionen wie der European Graduate School (EGS)?
Judith Butler: Es ist schwierig, meine Sicht auf das US Hochschulsystem zusammenzufassen. Heute gibt es neoliberale Maßstäbe zur Evaluierung akademischer Arbeit sowohl in Europa als auch in den USA, aber auch in Südamerika und Teilen des Nahen Ostens. Ich denke, nichts ist wichtiger, als eine energische Verteidigung der „public humanities“ und eine kompromisslose Kritik gegenüber neoliberalen Standards und dem Anstieg neoliberaler Formen der Regierung. Wir müssen unser Verständnis davon, was kritisches Denken ist, revidieren, um die interdisziplinäre Arbeit, die überaus interessant und unserer Zeit entsprechend ist, zu bekräftigen und zu verteidigen.
Mögen Sie Ihre Arbeit? Mögen Sie es, immer weiter hart und konsequent zu arbeiten? Wie viele Stunden pro Woche arbeiten Sie?
Judith Butler: In gewisser Weise arbeite ich immer. Wenn ich etwas anderes mache, arbeiten die Ideen in meinem Kopf weiter. Sie kochen oder „destillieren“ – manchmal bin ich mehr beschäftigt, manchmal weniger, aber ich liebe das Leben des Geistes und bin recht glücklich, die Möglichkeit zu haben, dieses Leben weiterzuverfolgen. Gemeinschaftliche Arbeit hält meinen Verstand in Bewegung und ich schätze diese Arbeit sehr.
Was hätten Sie getan, wenn Sie keine akademische Karriere gemacht hätten?
Judith Butler: Vielleicht wäre ich Anwältin oder Psychoanalytikerin geworden.
Freud und der Erste Weltkrieg: In Österreich und Bosnien gibt es zahlreiche Gedenkveranstaltungen. Thomas Mann beschreibt im Zauberberg die Atmosphäre von Lethargie und Rückzug (dies scheinen auch typische Verhaltensmodi unserer Tage zu sein) vor Ausbruch des Krieges sehr gekonnt. Könnte der mit Kriegsbeginn einsetzende Enthusiasmus (im Zeichen der Wir-Propaganda des Krieges) auch heute ein Schlachtruf für gelangweilte bürgerliche und prekäre Existenzen sein? Freud z.B. fühlte sich zu Ausbruch des Krieges mehr als Österreicher denn jemals zuvor (vgl. Frederic Morton: Wien 1913/1914, S. 294).
Judith Butler: Vielleicht wussten wir klarer, wie Kriege beginnen und wie sie enden. Es scheint, als wären wir in den USA immer im Krieg oder dass wir in eine Zeit des permanenten Krieges eingetreten sind. Wir sind im Krieg, wenn wir sagen, dass wir es nicht sind, und manchmal „behaupten“ wir den Beginn oder das Ende des Krieges, aber diese Sprechakte sind ihrerseits Kriegsmanöver. Es stimmt, dass die Zunahme rechter Parteien quer durch Europa eine Stärkung von anti-immigrantischen Nationalismen und des Eurozentrismus zeigt. Dieser Form des Hasses muss man sich mit aller Kraft entgegenstellen. Aber es erscheint mir auch so, dass europäische Länder Truppen in verschiedenen Teilen der Welt stationiert haben. Das sollte klarer dokumentiert und debattiert werden. Ich denke, dass Freud hilfreich ist, uns zu zeigen, wie Menschen „moralische“ Rechtfertigungen für Aggression und Krieg entwickeln können. Das ist einer der Gründe, warum Moral mir suspekt ist, wenngleich ich fortgesetzt ethische Bezugssysteme ausarbeite, die reziproke Anerkennung und soziale Gleichheit fördern.
Ich mag Ihren Umgang mit anderen Autor_innen sehr, die Art wie Sie deren Denken starkmachen. Sind Deleuze und Guattari für Sie – besonders in der Kritik am Gefängnis oder anderen disziplinären Institutionen – nicht auch wichtig?
Judith Butler: Beide sind sehr wichtig für kritische Theoretiker_innen meiner Generation. Deleuze ermöglichte eine wichtige Beschäftigung mit Psychoanalyse, speziell mit dem Todestrieb. Und ich mag seine Arbeit über Spinoza sehr und viel von seiner Filmtheorie. Vielleicht ist mir seine Arbeit zum „Anti-Ödipus“ zu übertrieben. Ich sehe, dass Foucaults Beziehung zu Deleuze wichtig für seine Analyse des Gefängnisses war, aber es war immer Foucault, der mein Denken über diese Themen prägte.
Der Ausschluss devianter Subjekte erfolgt bevorzugt entlang von Kategorien wie Rassismus, Klassismus, Sexismus und Nationalität und er fungiert als Notwendigkeit zur Konstitution der Norm. Marx erwähnt einen weiteren Aspekt hinsichtlich der Fragen von Exklusion und Verbrechen:
„Ein Philosoph produziert Ideen, ein Poet Gedichte, ein Pastor Predigten, ein Professor Kompendien usw. Ein Verbrecher produziert Verbrechen. […] Bis ins Detail können die Einwirkungen des Verbrechers auf die Entwicklung der Produktivität nachgewiesen werden. Wären Schlösser je zu ihrer jetzigen Vollkommenheit gediehen, wenn es keine Diebe gäbe? Wäre die Fabrikation von Banknoten zu ihrer gegenwärtigen Vollendung gediehen, gäbe es keine Falschmünzerei? Hätte das Mikroskop seinen Weg in die gewöhnliche kommerzielle Sphäre gefunden … ohne Betrug im Handel? Verdankt die praktische Chemie nicht ebensoviel der Warenfälschung und dem Bestreben sie aufzudecken, als dem ehrlichen Produktionseifer? Das Verbrechen, durch die stets neuen Mittel des Angriffs auf das Eigentum, ruft stets neue Verteidigungsmittel ins Leben und wirkt damit ganz so produktiv wie Streiks auf Erfindung von Maschinen. Und verläßt man die Sphäre des Privatverbrechens: Ohne nationale Verbrechen, wäre je der Weltmarkt entstanden? Ja, auch nur Nationen?“ (Theorien über den Mehrwert, Bd. 26)
Andererseits kann das „Jemand-sein-lassen/Gehen-lassen“ oder pointierter: jemand aus einer Gemeinschaft auszuschließen, die härteste Strafe sein, die in einer Gesellschaft verhängt wird. Warum schließen Sie sich Angela Davis in ihrer Forderung nach Abschaffung des Gefängnisses (noch) nicht an?
Judith Butler: Ich denke, dass das Gefängnissystem redefiniert werden muss, um all die Formen unbefristeter Internierung, die an den Grenzen von Immigrationsbehörden praktiziert werden, zu erfassen. Vielleicht können wir in der Beziehung zu diesen unbefristeten Internierungspraktiken die legale Gewalt klar sehen, die der Nationalstaat unter gegenwärtigen Bedingungen einsetzt und die ihn erhält. Ich verstehe Marx so, dass das, was manchmal als „kriminell“ innerhalb eines vorgegebenen Rechtssystems bezeichnet wird, in einer ausgleichenden Ordnung zur Grundlage von „Widerstand“ oder sogar „Freiheit“ werden kann. Es ist interessant zu sehen, wie zum Beispiel bestimmte Staaten innerhalb der USA Homosexualität diskriminieren, während andere Staaten aber die Rechte von Schwulen und Lesben, diskriminierungsfrei zu leben, schützen. In diesem Fall beweist sich das kriminalisierende Gesetz selbst als kriminelle Praktik. Wir können bestimmte Gesetze allgemeiner als Schutz des Eigentums und als staatliche Kontrolle verstehen, so wird Snowden z.B. wegen der Ausübung seiner Rechte auf Informationsfreiheit zum Kriminellen gemacht. An diesem Fall können wir sehen, wie bestimmte Prinzipien genau deswegen bis zu dem Punkt verteidigt werden, wo sie dazu tendieren, das Regime anzuklagen, dessen Zweck die Verteidigung dieser Rechte ist. Anhand solch kritischer Momente wird deutlich, wie Regime ihre eigene Macht sichern, indem sie genau diese Freiheit, die sie vorgeben zu „schützen“, kriminalisieren.
Ich habe so ziemlich alles gelesen, was Angela Davis zum Gefängnissystem geschrieben hat und ich kenne auch ihre Argumente für die Abschaffung des Gefängnisses. Ihre Arbeit hat globale Implikationen und sie selbst unterstützt solidarische Gefängnisnetzwerke in verschiedenen Teilen der Welt (seit Kurzem auch in Palästina). Es ist wichtig zu sehen, wie sie die Entwicklung des Gefängnissystems in den USA versteht, das von Beginn an mit der Institution der Sklaverei verknüpft war. Nach der Emanzipation der Sklaven in den USA, Mitte des 19. Jhdts., produzierte die Schuldknechtschaft eine Situation, in der frühere Sklaven nur dann als Arbeiter angeheuert wurden, wenn sie bereit waren, unbezahlbare Schulden zu machen. Tatsächlich bezahlten sie Vorschüsse auf ihre Gehälter, die keine Arbeit je hätte tilgen können, d.h. sie verschuldeten sich mehr und mehr und wurden in Schuldnergefängnisse gesperrt. Das Gefängnis wurde zum Instrument, sie ihrer bürgerlichen Rechte zu berauben, die gerade erst gewonnen wurden. Die zentrale Frage, die Davis stellt, ist, ob Gefängnisse in den USA nicht nach wie vor die Hauptmechanismen zur Aussetzung der bürgerlichen Rechte von Schwarzen und Latinos sind. Wir können dieses Argument auf die Grenzen Europas ausdehnen und fragen, ob die Praktiken der unbefristeten Internierung nicht de facto die Mechanismen sind, die einen rechtsfreien Raum konstituieren oder staatsbürgerliche Rechte fortwährend verweigern. Ich denke, dass die Position von Davis, die die Abschaffung der Gefängnisse befürwortet (ebenso wie der trans/queere Aktivist Dean Spade), sehr wichtig ist. Aus dieser Perspektive können wir die breiteren ökonomischen und sozialen Zwecke des Wegsperrens ermessen. So lange wir nach Gefängnisreformen suchen, akzeptieren wir die grundlegende institutionelle Funktion des Gefängnisses. Ich selbst bin noch nicht bereit, diese Forderung zu unterstützen, aber es ist interessant und wichtig, sie zu bedenken.
In einer Perspektive der Indifferenz, der Gleich-Gültigkeit kann jede/r so sein, wie sie oder er das möchte. Sichtbarkeit wäre eine der Voraussetzungen, diese Gleichgültigkeit möglich zu machen. Wenn jemand im Gefängnis ist, ist sie/er unsichtbar für die Gesellschaft. Foucault und andere versuchten, Gefangene im Kontakt mit der Gesellschaft zu unterstützen. Könnten solche Formen der Politik (die mitunter große Hoffnungen in deviante Subjektivitäten gesetzt haben) auch heute sinnvoll angewendet werden?
Judith Butler: Zuerst möchte ich sagen, dass ich diese Rede über „deviante Subjektivität“ nicht ganz verstehe. Ich nehme an, dass bestimmte Personen in der Terminologie der Gesellschaftspolitik so betrachtet werden. In unseren eigenen Bewegungen des Widerstands sollten wir solchen Bezeichnungen widerstehen. Ich bin nicht sicher, ob völlige Transparenz eine notwendige Voraussetzung für Gleichheit ist. Aber ich denke, dass der Kampf, die Öffentlichkeit auch aus dem Gefängnis zu erreichen, angewiesen ist auf verschiedene Netzwerke von Leuten und virtuelle Technologien, die Partizipation von Gefangenen ermöglichen. Diese Netzwerke müssen sich in das Gefängnis hinein und aus dem Gefängnis heraus bewegen, auch wenn der Gefangene selbst das Gefängnis nicht verlassen kann. Diese Netzwerke ermöglichen eine Passage, Formen der Verschiebung und Vermittlung für jene, deren Rechte auf Meinungsäußerung und Bewegungsfreiheit ausgesetzt wurden. Ich bin der Ansicht, dass wir diese stark vermittelnden, virtuellen und technischen Formen der Repräsentation affirmieren müssen, um der Mobilisierung von Gefangenen außerhalb des Gefängnisses einen Platz zu eröffnen und so die Barrieren zwischen dem Gefängnis und der Öffentlichkeit zu durchbrechen.