Vyacheslav ist ein «Käfigkämpfer» in Moskau. Und er ist obdachlos. Die Journalistin Anna Rakhmanko und der Zeichner Mikkel Sommers haben ihn getroffen und mit Strannik ein Doku-Porträt in Comicform über ihn produziert.
Text: Martin Reiterer
Keine Paginierung, keine Abstände zwischen den Panels, keine Umschweife. Das kleine Porträt eines obdachlosen Vagabunden in Russland, Strannik, fängt plötzlich an und hört plötzlich auf. Man beginnt es wieder zu lesen. Vyacheslav ist ein Wanderer, so viel bedeutet «strannik» im Russischen: Die Bedeutung des Wortes reicht vom religiösen Pilger auf der einen bis zum unbürgerlichen Landstreicher auf der anderen Seite. Vyacheslav verkörpert vielleicht beides.
Die Journalistin Anna Rakhmanko, selbst gebürtige Russin, und der Illustrator Mikkel Sommer haben Vyacheslav, ursprünglich aus Kasachstan, in Moskau getroffen und vier Tage mit Kamera und Diktiergerät auf seinen Wegen sowie auf einer Reise zu einer Mixed-Martial-Arts-Veranstaltung (kurz: MMA) begleitet. Denn heute lebt der Herumreisende vor allem von diesem Vollkontakt-Kampfsport, der kaum Regeln hat – auch als «Käfigkampf» bekannt, weil er in umzäunten Ringen stattfindet.
Im Anschluss hat Sommer, der zusammen mit Rakhmanko und ihrer gemeinsamen Tochter in Berlin und Athen lebt, aus Rakhmankos Foto- und Textmaterial Zeichnungen in Schwarzweiß geschaffen und mit den ausgewählten Textfolgen zusammengefügt.
Wandelnder Lebenskünstler.
Die kurze Comic-Doku ist ebenso unscheinbar wie wundervoll. Sie ist so unaufdringlich nah an ihrem Protagonisten, dass man den Eindruck gewinnt, Text und Bilder entspinnen sich direkt seinem Innern. Dabei sind beide so autonom wie möglich: Die Textfragmente folgen in der Art eines Bewusstseinsstromes aufeinander, doch auch die Bilder fließen, wie aus einer eigenen Quelle, in einem Strom dahin. In unverschnörkelten Sätzen und ohne Larmoyanz erzählt der Mann von seinem Leben, spricht über sich selbst, seine harte Kindheit, seine geplatzten Träume und errungenen Erfolge, seine MMA-Kämpfe und Erinnerungen an Ereignisse wie die Eröffnung des ersten McDonald’s in Moskau. Vyacheslav hat von Geburt auf eine Lippen- und Gaumenspalte: Bruchlinien, die sich durch sein gesamtes Leben ziehen. Sein Sprachfehler hat ihn immer wieder enorm eingeschränkt, beruflich wie sozial. Dabei hat der Mittvierzigjährige niemals aufgehört zu träumen, wollte Künstler werden, hat Lichttechnik studiert und Journalismus, sogar gearbeitet in diesem Bereich, dann als Wachmann und als Kampfsportlehrer für Sambo.
Ungeschönt und schnörkellos, in groben, skizzenhaften Strichen, sind auch die Zeichnungen, die anregen, sich auf die Blickwinkel des Erzählers einzulassen. Darin wurzelt die tiefe Melancholie, die dieses bewegte Leben begleitet. Dass die Menschen in ihm «bloß einen bärtigen Obdachlosen sehen und sonst nichts», das schmerzt Vyacheslav, der in Wahrheit ein wandelnder Lebenskünstler ist. Sogar aus seiner Verunstaltung durch die Lippenspalte hat er indirekt eine Strategie für sein Leben als Kämpfer abgeleitet: Denn er hat bemerkt, wie viel Energie seine Gegner «zum Schutz des Gesichts verschwenden». Vyacheslav dazu: «Das habe ich nie getan.»
Ringkämpfe. Dagegen ist das Kämpfen lediglich einer der letzten Handlungsspielräume, die ihm verblieben sind: «Ich weiß nicht, was ich sonst machen soll. Ich mag es nicht, wenn es den anderen wehtut.» Dass es wehtun muss, das beschreibt die Autorin, die ihn begleitet hat: «Ich konnte mir nicht alle Kämpfe ansehen.» Vor allem aber war sie von einer fast unbegreiflichen Diskrepanz berührt: «dem herzlichen Umgang der Kämpfer» in der Umkleide und der erbarmungslosen Grausamkeit, mit der sie «im Ring aufeinander einschlugen».
Dass Vyacheslav, dessen Leben von solcherlei Diskrepanzen durchzogen ist, sich nicht in Verbitterung einhüllt, ist ebenso bewundernswert wie sein Einfühlungsvermögen, das er wohl durch seine vielfältigen (schmerzlichen) Erfahrungen geschärft hat. Entsprechend vermag er, etwa wenn er über seinen Alkoholiker-Vater, seine Mutter oder eine Kampfsportschülerin spricht, hinter dem Schleier der Erscheinungen ihr verborgenes Wesen zu erblicken. Diesen herzhaft offenen Blick ihres Protagonisten eindrucksvoll widerzuspiegeln, ist den Autor_innen dieses Comics wunderbar gelungen.
Anna Rakhmanko & Mikkel Sommer:
Strannik
Rotopol, 2019
48 Seiten, 14 Euro
Laut Nachwort im Buch soll alles, was Rakhmanko und Sommer mit der
Veröffentlichung von Strannik verdienen, Vyacheslav zugute kommen.