Über Bahnhofsrestaurationen (2/5)
Nicht alle, die in einem Bahnhofsrestaurant sitzen, fahren auch tatsächlich weg. Manche Reisende sind gekommen, um zu bleiben – weil sie weder ihre Stadt noch das eigene Leben verlassen können. Von Chris Haderer (Text & Fotos).
Bildunterschrift: In diesem historischen Teil des Bahnhofs Villach werden arme Leute gratis verköstigt.
Im Sommer 1990 muss es gewesen sein, als ich zuerst das Grand Central Terminal in Manhattan und dann den Hauptbahnhof von Klagenfurt zu sehen bekam, beides zum ersten Mal. Die Unterschiede waren durchaus imposant: Die Grand Central, wie die New Yorker ihren Bahnhof nennen, ist mit 67 Gleisen der größte der Welt. Der Durchgangsbahnhof der Kärntner Landeshauptstadt hat stolze sechs Gleise, auf denen «jeden Tog guad zwahundad Tsüg kumman», wie mir ein Biertrinker in der Reste einmal erklärt hat. Das war noch vor den Jahrtausendwendeumbauten der Bundesbahn, die aus Zeitzeugen Bauwerke mit einem ökonomischen Nutzen jenseits des Fahrbetriebs gemacht hat, wie man die Bahnhofsoffensive» der ÖBB deuten kann. Ich mag den neuen Klagenfurter Hauptbahnhof nicht so sehr wie den alten; ihm fehlt etwas, denn bis auf die beiden Wandfresken von Giselbert Hoke, die schon in den 50er-Jahren für einen halben Bürgerkrieg in Klagenfurt gesorgt haben, hat er keine Seele. Die an Picasso erinnernde Bildsprache des 1927 in Nordböhmen geborenen und 2015 in Klagenfurt verstorbenen Künstlers, mit der «Wand der Kläger» im Osten (Fahrtrichtung Wien) und der «Wand der Angeklagten» im Westen (Richtung Villach) war ein bisschen zu viel für das konservative Kärntner Nachkriegs-Kunstverständnis. Die 1956 eingeforderte Vernichtung der 22 mal fünf Meter großen Fresken fand dann aber doch nicht statt – mittlerweile stehen sie unter Denkmalschutz und haben auch die Bahnhofsoffensive der ÖBB überlebt. Sie sind Zeitzeugen, aber auch Einzelschicksale. Dort, wo sich das alte und manchmal mit recht sonderlichen Gästen bestückte Bahnhofslokal befand, das im Keller auch eine Kegelbahn hatte, steht jetzt ein Billa. Infrastrukturell ein Gewinn für alle, die sich für das Sonntags-Shopping nicht zur Tankstelle mit Seeblick auf der A2 bemühen wollen. Durch den Markt ist der Hauptbahnhof immerhin zu einem beliebten Ausflugsziel geworden – so wie aus der vom Verfall gezeichneten Grand Central Station nach ihrer Renovierung in den 90er-Jahren einer der beliebtesten Plätze von Manhattan wurde …
Name als Alibi.
Im Gegensatz dazu ist ein Sonntag in Klagenfurt oft wie Einzelhaft in Stein. Selbst dem Lindwurm am Neuen Platz wird nachgesagt, dass er an manchen Wochenenden aus Einsamkeit weint. Zumindest ist die von Erwin Schirnik seit 2005 betriebene «Reste» am Hauptbahnhof im Dienst. «Das Lokal heißt so, weil sowieso jedes Bahnhofslokal Reste genannt wird», sagt Schirnik. «Jeder andere Name steht praktisch nur als Alibi auf dem Schild.» Die alte Reste kennt Schirnik noch aus seinen Jugendjahren. «Das Lokal war riesengroß, aber schlecht bewirtschaftet, weil der Pächter kurz vor der Pension stand.» Aus der Pacht, die im alten Österreich neben dem Lokal oft auch eine Wohnung sowie Preisnachlässe für Uniformierte umfasste, ist eine Miete geworden; aus der neuen Reste «eine Kombination aus einem klassischen Bahnhofslokal und moderner Gastronomie auf gehobenem Gasthausniveau».
Durch das Fenster liegt das 1er-Gleis (nach Villach und darüber hinaus) wie auf einem Tablett vor mir; im Sommer kann man auch draußen sitzen, aber niemand erstarrt mehr, «wenn der Zug vorbeifährt», wie es Franz Kafka 1910 in seinem Tagebuch festhielt. Klagenfurt ist ein «verdrehter» Bahnhof: In den meisten Bahnhöfen kommen am Hauptgebäude orientiert die Züge Richtung Wien von links nach rechts – in Klagenfurt fahren sie zwar auch von Westen nach Osten, aber von rechts nach links. Drinnen ist die Reste ein langgezogener Raum mit Holztischen und Hockern auf der linken Seite, rechts befindet sich die Schank, die sich fast über die ganze Länge des Lokals zieht. Ganz hinten links, am letzten Tisch vor der Glasscheibe, die Raucher- und Nichtraucherbereich trennt, ist der Stammtisch. Am Abend treffen sich dort mehr oder weniger regelmäßig ein paar Schachspieler. Ansonsten findet sich das übliche Inventar einer Bahnhofsreste: pockennarbige Trinker mit fettigen Haaren unter der Baskenmütze; auch Leute in Anzügen, bei denen protzige Ringe ins Auge stechen; Brillenträger_innen, große und weniger große Denker_innen; Reisende, Sozialhilfeempfänger_innen, Jugendliche. Leute eben; und ein paar, die sich verirrt haben und etwas völlig anderes vorhatten, als ihr Leben in einer geheizten Wartehalle zu verbringen. «Immer weniger Reisende benutzen den Bahnhof zum Warten, immer mehr Wartende sind aber Dauernutzer des Bahnhofs», meint Thomas Hengartner, Volkskundler an der Universität Hamburg. Es sind «Wartende ohne Ziel, denen der Bahnhof zur Heimat und Warten zum Selbstzweck wird oder geworden ist.» Roland Girtler, Soziologe, drückt es ähnlich aus: «Die Bahnhöfe der großen Städte sind für Sandler und Sandlerinnen wie große Marktplätze, auf denen Geschäfte aller Art, Imbisstuben, Restaurants und ähnliche Lokale ihnen die Chance geben, ihr Leben einigermaßen zu meistern.»
Keine Gesichtskontrolle.
In der Reste reicht das Publikum laut Erwin Schirnik «vom Generaldirektor bis zum Obdachlosen. Jeder ist der gleiche Gast. Außerdem ist ein Bahnhofslokal nicht für eine bestimmte Zielgruppe gemacht, sondern für ganz unterschiedliche Reisende» – und auch für solche, die gar nicht wegfahren. Unter der Woche werden die Mittagsmenüs fast im Minutentakt serviert. Es gibt mehrere zur Auswahl, beispielsweise «Röstischmankerl mit Räucherlachs-Meerrettich-Fülle an Blattsalat mit Knoblauchdip» (mit Suppe um € 8,10) oder ein «gegrilltes Putensteak mit Speck und glacierten Zwiebeln auf Wildreis» (mit Suppe und Nachspeise um € 11,30). Eine gute Auswahl an Frühstücksvariationen, einigen Suppen und Lokalpatrioten wie Kärntner Kasnudeln lässt keine Beschwerden aufkommen. Den «Schokohupf mit Schlag» bekommt man als «Mohr im Hemd», und auch der «Indianer mit Schlag» hat keinen Decknamen bekommen. Einen Kniefall vor der Reste-Köchin ist das Schweinsgulasch wert, das auch als Kleines für einen größeren Hunger völlig ausreichend ist. «Ohne Mittagspublikum wäre es gar nicht möglich, so ein Lokal zu erhalten», sagt Schirnik. «Von den Getränken alleine kann man nicht leben.» Dass die Lage am Klagenfurter Hauptbahnhof nicht wirklich optimal ist, kommt als erschwerendes Detail hinzu. Gehobene Konkurrenz gibt es allerdings nicht: Die «Hirter Ambulanz» in der Bahnhofstraße hat schon vor Jahrzehnten stationäre Behandlungen eingestellt, und das Café Robert Musil gegenüber dem Bahnhof heißt nur so, weil es direkt ans Musil-Geburtshaus angrenzt.
Bahnhof ohne Züge.
«Nach Ägypten wär’s nicht so weit», wurde einmal von Karl Kraus gespöttelt: «Aber bis man zum Südbahnhof kommt!» Oder anders gesagt: Bis nach Kärnten wär’s ja nicht so weit – aber bis man ein Bahnhofsrestaurant findet! Die sind tatsächlich eher spärlich gesät: Neben Klagenfurt gibt es eines in Spittal am Millstätter See, in Mallnitz-Obervellach, in Krumpendorf und in Velden am Wörthersee. In der Eisenbahnerstadt Villach, der eigentlichen Drehscheibe des Zugverkehrs in Kärnten, gibt es nur zwei Backfilialen und ein seit Jahren geschlossenes Lokal in der Unterführung. Dass es einmal eine Restauration am Bahnhofsplatz gab, beweist ein Foto im Stadtmuseum aus dem Jahr 1910: Ein Lokal mit historischem Ambiente, ein Mittelding aus architektonischem Luxus und Reiselust. Die Realität, gute 100 Jahre später, fühlt sich anders an. Ein «Bahnhofslokal», und zwar ein nicht nur in Kärnten mehr oder weniger einzigartiges, gibt es am Villacher Westbahnhof. Im Rahmen der Initiative «Westbahnhoffnung» werden dort seit Jahren kostenlose Menüs für Menschen ausgegeben, die das sind, was es in Villach offiziell nicht gibt: arm. Bis zu 80 Essen werden an manchen Tagen von Marjan Kac und seinem Team im alten, aufgelassenen ÖBB-Gebäude zubereitet, das knapp 100 Meter von den neuen Bahnsteigen entfernt ist. Wer Hunger hat, kann kommen, gekocht wird zum Teil von ehrenamtlichen Mitarbeiter_innen, und es sind auch mehrgängige Menüs, die spendenfinanziert auf den Tisch kommen. An der Westbahnhoffnung reibt sich die Veränderung der Welt: «Wer je von der Atmosphäre alter Bahnhöfe berührt wurde, auf denen Menschen, noch ganz mit Fremde behangen, ankommen, um ihren ersten Blick auf das Neuland zu werfen, der sieht der Umwandlung dieser sozialen Umschlagplätze von Hoffnung und Elend in Zentren des Erlebnisshoppings mit Widerwillen zu», notierte der im Vorjahr verstorbene deutsche Publizist Roger Willemsen in seinem Buch «Deutschlandreise» über das «Warten» am Bahnhof. «Bahnhöfe sind Orte auch, wo jene unglücklich hängen bleiben, die keine Möglichkeit haben, ihre Stadt oder ihr Leben zu verlassen.» Willemsen meinte damit zwar den Bahnhof Zoo in Berlin, wie ein soziales Seismometer registriert er aber ortsunabhängig die Epizentren des Wandels: «Das Volkstransportmittel Bahn emanzipiert sich vom Volk? Wo bleibt das Grundrecht auf Herumlungern? Wenn ein Bahnhof ein öffentlicher Raum ist, heißt das nicht, es besteht Zugangs- und Aufenthaltsberechtigung für jeden?» Somit ist die Westbahnhoffnung das sozialste «Bahnhofsrestaurant» Kärntens, und auch das am wenigsten ersetzbare: in einer denkmalgeschützten Jugendstilhalle, in einem Bahnhof ohne Züge.