Cherchez la Femme (Oktober 2024)
Ich sehe sie, ich rieche sie, ich atme sie, ich berühre sie. Sie werden ziemlich groß und fallen auch gerne wieder zu Boden. Manchmal so wie ein Baum zittre ich, nehme ich auf, verzweige mich, erblühe und werfe ab. Auch eine Pflanze kommuniziert, das wusste nicht nur Carlos Castañeda Don Juan, das wissen wir heute aufgrund wissenschaftlicher Forschung. Wir lernen also durch Pflanzen. Wir nähren uns durch Pflanzen. Wir heilen mit Pflanzen. Aus Pflanzen stellen wir großartige Dinge her. Ich hole mir Engelwurz neben den Bächen aus den feuchten Tälern der Alpen, der Geruch der Wurzel hat mich einmal derart betört, sodass ich fast rauschartig lernte, aus der Wurzel eine Creme herzustellen. Nun fahre ich, nach fünfzig Jahren, durch die Heimat meiner Eltern, möchte die Wälder wieder riechen und in den vielen Seen baden. Seen des ehemaligen Tagebaus nach der Flutung. Ich bin in der Lausitz, im ehemaligen Ostdeutschland. Braunkohle. Den Geruch kriegst du nie wieder aus dem Hirn. Rotföhrenwälder soweit das Auge reicht. On the road über Stunden Richtung Spreewald, entlang ewig verlaufender schnurgerader Straßen, die nicht enden wollen. Links und rechts der Straße Millionen hoher roter Baumstämme. Jetzt fühlte es sich dort an wie am Arsch der Welt, verlassen, Dörfer, die sich (fast) nicht verändert haben, einige Straßen, die kaputt sind wie in den 1970er-Jahren, als ich das letzte Mal meine Großeltern sah. Mein Großvater war Sorbe, ein Lausitzer Slawe. Deutsche nannten sie «Wenden». Das Öl der Rotföhre wirkt schleimlösend, ihre Rinde enthält entzündungshemmende Stoffe, sie ist ein schnellwüchsiger, immergrüner Nadelbaum, gedeiht in unterschiedlichen Lebensräumen und durch ihre Anpassungsfähigkeit und eine Baumart der Extreme, ist die Rotföhre eine wichtige Holzlieferantin, robust und hitzeverträglich, mit einer hohen Frostresistenz. Auf einem Foto von 1900 sieht man Großvater als Kind in Hemd und Anzug. Ohne Schuhe.
Kórka
Die Rotföhre* besitzt männliche wie weibliche Blütenstände, sie befinden sich am selben Baum, wachsen aber an getrennten Zweigabschnitten. Rotföhren bilden Pfahlwurzeln bis zu acht Meter aus. Seitenwurzeln wachsen bis zu 16 Meter. Dieses Wurzelsystem macht sie sturmfest und hilft, an tieferliegendes Wasser zu gelangen. Mein Großvater wuchs in einem winzigen Lehmhaus an der polnisch-tschechischen Grenze auf. In der Lausitz. Vier Kinder und Eltern. Kein fließend Wasser. Plumpsklo, das heute noch genauso dasteht wie vor 200 Jahren. Und genauso riecht. Ich achte diesen Geruch. Er bringt alle meine Bilder wieder hervor. Großvater und Großmutter lebten von ihren Kaninchen, ihrem Gemüse und von der Milch der Nachbar:innen. Allein das Brot und Getreide musste gekauft werden. Zu den Gurken sagte mein Großvater «Kórka», wobei das «ó» nicht zu hören war. Ich war sieben Jahre alt und verstand es nicht, so wollte ich Kórka immer und immer wieder hören, es amüsierte mich. Sein Vater hatte mehr als hundert Bienenvölker, die Bienenkästen stehen immer noch, gelb und hellblau, sehr verblasst. Ich gehe hinten hinein und erinnere mich, wie mein Großvater mir die Bienenwaben zeigte und er die Bienenkönigin samt Volk spektakulär von einem Baum holte, als wäre es eben jetzt passiert. Das legendäre Sandmännchen in orangenem Plastik wartet seit fünfundfünfzig Jahren im Schuppen bei den Bienenkästen auf mich. Diesmal nahm ich es mit. Alles dort unverändert, das kleine Haus unter Denkmalschutz. Man spricht heute Sorbisch, Hinweisschilder sind zweisprachig, und in Bautzen, der Heimat meiner Mutter, gehe ich ins Sorbische Museum. Als ich eine historische Tonaufnahme eines sorbisches Liedes höre, weine ich. Da erinnerten sich meine Ohren und zeigten mir den Moment, als ich vier Jahre alt war, neben meiner Urgroßmutter saß, die mit mir Sorbisch sprach. Ich hatte es nicht mehr in Erinnerung. Aber nun konnte ich mich klar erinnern. Das war ein derart fantastischer Moment – ausgelöst durch ein akustisches Signal, Musik, Stimme, Schwingung. Sorbisch wurde in unserer Familie nicht mehr gesprochen. Verbote, Verfolgung, Ausgrenzung ließen viele verstummen. Die Geschichte der Sorb:innen reicht bis ins 6. Jahrhundert zurück, in die Zeit der Völkerwanderung. Die mit Feuer und Schwert vollzogene Christianisierung der Slaw:innen hat ihre vorchristlichen Kulturen, ihre Mythologien, ihre Völker und Sprachen weitgehend ausgelöscht, wie beispielsweise die Göttin der Liebe, Fruchtbarkeit und Ernte, Kupala (kupati = baden). Das männliche Pendant ist Perun, Gott des Donners, der Macht, bis heute hat er sich in Redewendungen erhalten, wie zum Beispiel im Polnischen: «Do pioruna!» «Zum Donnerwetter!» Wenn man fragt, was die Slaw:innen denn heute noch verbindet, schreibt Hans-Christian Trepte, dann stößt man auf gemeinsame Begriffe und Ausdrücke. Die damals für die Slaw:innen unverständlichen Wörter der Deutschen führten zu dem Begriff «Stumme» für alle Deutschen. Daher kommt auch im Polnischen der Name für Deutschland: Niemcy, das bedeutet Stummland, im Russischen: Nemez.
Waldwolle?
Der Kienspan der Rotföhre wurde schon in der Altsteinzeit hinein als Beleuchtungsmittel verwendet, aus dem Harz der Rotföhre wurden Fackeln hergestellt. Völlig vergessen hat man die Waldwolle. Abgezupfte Nadeln werden in Wasser gelegt, nach etwa zwei Monaten lassen sich die Nadeln zerrollen und die erweichten Fasern ergeben mit der Zeit ein wolliges Gewebe – die Waldwolle. Diese Waldwolle wurde zum Befüllen von Pölstern und Matratzen benutzt oder zu einem Garn verwoben, um daraus Textilien zu fertigen. Was für ein Wissen geht uns da verloren … Dabei ist alles da. Pflanzen liefern Samen, sie reisen weit mit den Winden, Pflanzen emigrieren und immigrieren, sie treiben aus, vervielfältigen sich, das ist unsere Basis, die wir immer weiter zerstören. Von wilder, unberührter Natur sind wir in Österreich weit entfernt. Selbst die Nationalparks werden von Tourist:innen gestürmt. Überall ist Lärm, Licht, selbst auf der Alm Getose, Gebrüll, Müll. Man opfert dem Mammon, dem Übergott des Tourismus. In den Bergen, wo ich manchmal lebe, beobachte ich in großer Entfernung ab und zu Adler durch mein Fernglas. Ihnen möchte ich einmal begegnen, im Morgengrauen aufstehen, auf den Berg steigen und bei Sonnenaufgang warten. Den genauen Platz muss ich noch herausfinden. Meine einheimischen Freund:innen werden mir das hoffentlich flüstern. Vielleicht auch nicht. Ich würde sie gut verstehen.
Mietshäuser Syndikat!
Ich bin also zu den Bergen, Pflanzen, Seen meiner Ahnen gefahren, musste die Gegenden, die Bäume und Felder riechen, den Rost des Zauns, den Lehm des denkmalgeschützten Hauses in mich aufnehmen, um Altes wieder zu beleben und – ja – auch neu zu erleben, neu zu sehen und zu verstehen. Ich sah die Kirche meines Urgroßvaters, wo er Pfarrer war, besuchte meine Kusine, die uns eine kulturhistorische Führung durch die prächtige Stadt Nürnberg gab, dann Dresden an der Elbe, einem der schönsten Orte in Deutschland, wo wir kostenfrei in einer gerade freien Wohnung des Mietshäuser Syndikats wohnen konnten. Danke, ihr wart großartig! Ich zeigte meinem Sohn die von den Kommunist:innen konfiszierte Villa der väterlichen Seite, über den Hügeln der Elbe, wo heute Luxus-SUV stehen. Natürlich in Schwarz. Martialisch. Schließlich muss man sein Vermögen zeigen und verteidigen. Ich gebe zu, mein Großvater väterlicherseits fuhr gerne Porsche. Rot. Dunkelblau. Er war Unternehmer. Hatte eine Firma aufgebaut mit dem Vermögen seiner Frau. Legitim. Aber Protz bleibt Protz. Seien wir ehrlich. Vermögen bleibt Vermögen. Elite bleibt Elite. Auch 90 Jahre später. Er produzierte Diarahmen und Projektoren. Floh in den Westen, verlor alles, und baute dort alles neu auf. Um die Ecke leben alte Bekannte, Akademiker:innen, Mittelstand, die trotz Gentrifizierung bleiben und ausharren. Guter Dinge sind sie schon lange nicht mehr. Sie haben Angst. Dort brodelt es. Das ist deutlich hörbar in allen Gesprächen. Ist es denn ein Wunder?■
Hans-Christian Trepte: Zwischen Kap Arkona und dem Lausitzer Bergland – Westslawische Mythologie.
Reihe «Kleines Mythologisches Alphabet» bei Edition
Homouda 2022