Von St. Petersburg bis Prenningvorstadt

Das Areal der Pappendeckelfabrik Feuerlöscher (vor 1938) [Foto: © Hans Scheuer]

In der Nähe von Graz bildete sich in den 1930er-Jahren ein bemerkenswerter Kreis aus jungen Intellektuellen, Avantgardist:innen und Geschwistern einer Industriellenfamilie. Darunter Anna-Lülja Simidoff (spätere Praun), die als erste Frau in Graz Architektur studierte.

«Die Abgeschottetheit dieses Areals hat mich fasziniert», erzählt Miteigentümer Gabriel ­Hirnthaler. Er konnte das historisch bedeutsame Gebiet ab dem Jahr 2002 stückweise mit seiner Gattin erwerben und krempelte es vom verschlafenen Wohnsitz der ehemaligen Papierindustriellenfamilie Feuer­löscher zum «Prenning’s Garten», einem Wohnprojekt mit rund 20 Bewohner:innen samt «KulturPension» und Kulturverein, den ­«Prenninger Gesprächen», um. Dieses Anwesen befindet sich rund 30 Fahrminuten vom Grazer Hauptbahnhof entfernt, im Übelbachtal, in der Ortschaft Prenning, die zur Marktgemeinde Deutschfeistritz gehört.

Fabriksgelände und Landsitz

Wir sitzen vor dem Eingang des derzeit geschlossenen ­Cafés der Pension. Gabriel Hirnthaler sucht dafür eine:n Betreiber:in. Ich bekomme trotzdem einen Espresso serviert, quasi als sein privater Gast. Das Gebäude, in dem die KulturPen­sion untergebracht ist, diente früher als Stall. Zu meiner Linken befindet sich ein niedriges neues Gebäude mit Flachdach und Holzfassade, sanft in den idyllischen Garten eingebettet, dort, wo sich einst die Trockenhalle der Papierfabrik ­Feuerlöscher befand. Zur Zeit wohne er mit seiner Frau darin und es werde als Lager genützt, gibt Gabriel Hirnthaler Auskunft.
Die Papierfabrik wurde aus wirtschaftlichen Gründen 1966, nach 82 Betriebsjahren, stillgelegt. Der kulturgeschichtlich wohl spannendste Abschnitt betrifft die 1930er-Jahre als sich herauskristallisierte, dass die dritte Generation der Familie Feuerlöscher, die vier Geschwister Anna, Elisabeth (Lily), Eva und Herbert weit über den Papptellerrand von Papierindustriellen hinausblickten und enge Freund:innenschaften mit Künstler:innen und Intellektuellen aus dem Umfeld der Grazer Sezession bzw. der sozialdemokratischen Tageszeitung Arbeiterwille eingingen. Konkret handelte es sich dabei um den Architekten Herbert Eichholzer, den stellvertretenden Herausgeber des Arbeiterwillen Kurt Neumann, den Autor Ernst Fischer, den Maler und Illustrator Axl Leskoschek, den Bildhauer Walter Ritter und die Architektin Anna-Lülja Simidoff (spätere Praun).
Treffpunkt dieser Clique wurde der Landsitz der Familie Feuerlöscher, der am Fabriksgelände integriert gewesen ist (Firmensitz war Graz). Trotz Annehmlichkeiten wie Tennisplatz und Schwimmteich dachte dieser «Prenninger Kreis», wie er später in Geschichtsbüchern bezeichnet wird, aber nicht daran, den Austrofaschismus und das NS-Regime hinzunehmen und leistete zum Teil aktiven Widerstand. Einer aus diesem Kreis, Herbert Eichholzer, musste mit seinem Leben dafür bezahlen. Er wurde am 7. Jänner 1943 wegen «Vorbereitung zum Hochverrat» hingerichtet.

Artist’s artist

Vor der Machtübernahme der Nazis arbeiteten und lebten – für damalige Verhältnisse skandalöserweise unverheiratet – ­Herbert Eichholzer und Anna-Lülja Simidoff zusammen. Er galt als prononcierter Vertreter der ­Moderne, sie war die erste Frau, die in Graz Architektur studierte und somit eine der ersten Architekt­innen in Österreich. Neben dieser historisch bedingten Auszeichnung erarbeitet sich Anna-Lülja Simidoff einen exzellenten Ruf. Sie ­wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in Wien, einer Heirat geschuldet unter dem Namen Anna-Lülja Praun, zur Artist’s artist, zu einer «Künstlerin der Künstler:innen» also – der Allgemeinheit ist sie bis dato weitgehend unbekannt.
Eine Erklärung dafür liefert Paul Petritsch, der gemeinsam mit Nicole Six seit nunmehr acht Jahren das Fotoprojekt Nach Anna-Lülja Praun betreibt. Das Künstler:innenduo macht ­Objekte von Praun ausfindig und fotografiert diese am jeweiligen Standort. Dazu muss mensch wissen, dass Anna-Lülja Praun im Laufe der Zeit immer weniger Gebäude, dafür mehr ­Möbel und Einrichtungsgegenstände entworfen hat. Laut Paul Petritsch gebe es bei Anna-Lülja Praun im Gegensatz zu Margarete Schütte-Lihotzky keinen aktuellen fachlichen Diskurs und es fehlt in der Gegenwart die historische Einordnung und Aufarbeitung. ­­Allerdings: Das MAK hat schon ­zigtausende Dokumente erfasst, diese lassen sich via Onlinesammlung abrufen.
Quellen belegen, dass der Einfluss von Anna-Lülja Praun wichtig gewesen sein muss, wie Nicole Six erklärt: «Sie war in Kontakt mit anderen Architekt:innen, zum Beispiel mit der Arbeitsgruppe 4. Dies war eine Art kollegialer, freundschaftlicher und auch kritischer Austausch» mit den Architekten Wilhelm Holzbauer, Friedrich Kurrent, Otto Leitner und Johannes Spalt.
Auch für Carola Dertnig ist Anna-Lülja Praun Vorbild und Förderin gewesen, wie in Begleittexten zu ihrem Projekt Der Nachlass der Architektin Anna Lülja Praun zu lesen ist. Dafür dokumentierte die Künstlerin die Auflösung des Wohn­ateliers nach Prauns Ableben und gestaltete aus dem Fotomaterial Installationen und Collagen.

St. Petersburg, Sofia, Graz

Anna-Lülja Praun verstarb vor ziemlich genau 20 Jahren 98-jährig in Wien. Geboren wurden sie 1906 in St. Petersburg, aufgewachsen ist sie in Sofia, und zwar dreisprachig: Russisch (Muttersprache), Bulgarisch (Vatersprache) und Deutsch (Sprache des österreichischen Hausmädchens). Der Vater, Boris Simidoff, schickt Anna-Lülja 1924 an die TU Graz, wo sie sich als erste Frau für Architektur einschreiben wird. Interessanterweise bildeten in der Zwischenkriegszeit Bulgar:innen die größte Gruppe ausländischer Hörer:innen an österreichischen Universitäten. Hintergrund: Die Studienbedingungen waren damals in Bulgarien schlecht, dafür die bilateralen Beziehungen gut.
Die Studentin Anna-Lülja Simidoff geht mit dem Architekten Herbert Eichholzer sowohl eine private als auch eine Arbeitsbeziehung ein, die aber nicht von langer Dauer ist. Eichholzers politischer Aktivismus dürfte der Trennungsgrund gewesen sein, denn Simidoff schien traumatisiert: Ihr Vater wurde 1925 vom bulgarischen Militärregime ermordet, weil er aktiver Sozialist gewesen ist.

Sofa für Karajan

Sie beginnt für den Architekten Clemens Holzmeister zu arbeiten, zunächst in Wien, dann in der Türkei. Im Atelier Holzmeister lernt sie ihren späteren Ehemann ­Richard Praun kennen und geht wegen ihm nach Wien. Die Scheidung erfolgt nach knapp zehn Ehejahren, denn Richard Praun degradiert seine Gattin zur Hausfrau und Mutter. «Im Alter von 46 Jahren wagte sie die Gründung eines eigenen Ateliers, das sich jeweils immer im Arbeitszimmer ihrer Wohnung befand. Ihre Wohnung war ein Treffpunkt für Freunde und Freundinnen aus aller Welt, ein offenes Haus, in dem Kontakte entstanden und gepflegt wurden», wie Martina Kandeler-­Fritsch, Praun-Expertin im MAK, schriftlich mitteilt. So ergaben sich auch Aufträge. Zu den bekannteren Arbeiten zählen nicht die (Um-)Bauten, sondern Möbelstücke, etwa das Sofa für Herbert von Karajan oder das Komponierpult für György Ligeti. Dazu Nicole Six: «Der F.L.P. (ein Stuhl, Anm.) ist das einzige Möbelstück, das in verschiedenen Varianten in eine größere Produktion gegangen ist. Viele Möbelstücke sind genau für eine Person, eine Tätigkeit und einen Ort hergestellt. Praun hat hier immer den persönlichen Zugang forciert und auch geschaffen. Aus unserer Sicht war für sie das Möbel immer ein Optimum aus der Situation, den Bauherr:innen und den Handwerker:innen.»
Dörfliches und das Dorf. Trotz vieler Möbelentwürfe hat es Anna-Lülja Praun nicht leiden können, als «Designerin» bezeichnet zu werden, wie ihr Enkel Manuel Singer bei einem Treffen im Stammcafé seiner Großmutter in Wien, dem Hummel, erzählte. Sie hätte generell «das Dörfliche im achten Bezirk sehr genossen».
Im Dorf Prenning möchte Gabriel ­Hirnthaler «Prenning’s Garten» künftig im Rahmen der steirischen Kulturstrategie 2030 «noch stärker als Treffpunkt in der Region anbieten». 

Buchpräsentation

Herbert Eichholzer – Architektur und Widerstand
7. November, 18 Uhr
Prenning’s Garten
Übelbacherstraße 159, 8121 Prenning
www.prenningsgarten.at

21. November, 18 Uhr
Museum für Geschichte Graz
Sackstraße 16, 8010 Graz
www.clio-graz.net

Fotoausstellung

«Nach Anna-Lülja Praun»
19. Oktober – 24. November
Altes Kino Leibnitz
Bahnhofstraße 16, 8430 Leibnitz
www.six-petritsch.com

Translate »