Irak und Syrien zwischen den Kriegen – eine Reportage in gemalten Bildern
Wie lebt es sich mit den Folgen des Krieges? Sarah Glidden zeichnet in ihrer neuen Graphic Novel das Leben im Irak und auf der Flucht aus dem Irak nach Syrien. Martin Reiterer erkennt darin auch eine Hommage an aktuell Flüchtende.Eine Frau, aus dem Irak nach Syrien geflüchtet, im Gespräch mit einer Journalistin, die aus den USA kommt: «Ich mag euch. Ich mag euch, aber ich hasse eure Regierung.» Dezember 2010. Die US-amerikanische Comiczeichnerin Sarah Glidden, hierzulande bekannt geworden mit ihrem bemerkenswert diskursiv angelegten Debüt «Israel verstehen – In 60 Tagen oder weniger» (2011), reist zusammen mit zwei befreundeten jungen Journalist_innen durch die Türkei in den Irak und nach Syrien. Sie zeichnet die Reise auf, um den Menschen zu Hause «in Amerika» ein anderes Bild – oder überhaupt ein Bild – von den Menschen auf der Flucht in den betreffenden Ländern mitzubringen.
Die US-amerikanischen Medien hatten nach dem deklarierten Ende des Irakkriegs (März bis Mai 2003) kaum über die verheerenden Folgen des Krieges für die Menschen im Irak berichtet. Das Bild einer Bevölkerung, die sich über den Sturz Saddam Husseins und über die Befreier freut, sollte als Mythos bewahrt werden. Auch wenn sich der Comic auf die US-Perspektive beschränkt: Die US-amerikanisch-britische Militärintervention, deren Rechtfertigung sich als eindeutig falsch erwies und die einen Bruch des Völkerrechts darstellte, wurde unter Beteiligung einer Reihe europäischer Regierungen (siehe die sogenannte «Koalition der Willigen») durchgeführt. Doch nicht die Frage «Was haben wir getan?» steht im Vordergrund der Comicreportage, sondern die Frage «Wer seid ihr?»
Fähige Menschen in sauberer Kleidung
Wer sind die Menschen, die da flüchten mussten? Obgleich sich die Lage im Irak wie in Syrien seit Gliddens Reise mehrfach vollends verkehrt hat, ist der Comic «Im Schatten des Krieges» gerade angesichts der aktuell nach Europa flüchtenden Menschen bedeutend und auch aufschlussreich. Er leistet etwas, das in den alltäglichen Nachrichten einer zur radikalen Geschichtslosigkeit verkürzten Aktualität geopfert wird. Es ist hilfreich, zu einem Zeitpunkt zurückzukehren, in dem die Lage in der Region noch überschaubarer scheint. Und es lässt sich nach der Lektüre zumindest ahnen, wie sich die Situation für die Menschen in einem Land wie Syrien nach einem misslungenen Aufstand gegen die eigene Regierung, nach einem verbitterten Bürgerkrieg, der längst zum Stellvertreterkrieg geworden ist, und nach dem Aufkommen einer neuen skrupellosen Macht, dem IS, um ein Vielfaches verschlimmert haben muss.
Eine der Leitfragen, die die Gruppe auf ihren Reiseetappen zwischen Van in der Osttürkei, Sulaimaniyya im Nordirak und der syrischen Hauptstadt Damaskus wiederholt an Leute richtet, die vor Ort im Flüchtlingsbereich arbeiten, oder an solche, die selbst geflüchtet sind, ist die nach den wichtigsten Irrtümern und Falschbildern über Flüchtlinge. Entgegen dem klischeehaften Bild von Flüchtlingen mit dreckigen Kleidern etwa können Flüchtlinge durchaus «wohlhabend» sein, vor allem aber: «Sie haben Fähigkeiten, sie haben Ideen.» Die irakischen Flüchtlinge in Syrien – im Jahr 2010 sind das über eine Million – kommen zum großen Teil aus der Mittelschicht, Ärzte, Anwältinnen, Lehrer, «genau die, von denen die USA hoffte, sie würden einen neuen Irak aufbauen».
Wozu ist Journalismus gut?
Eine zweite Frage, die der Comic stellt: Was ist Journalismus? Da ist zum einen der Hintergrund des «embedded journalism», des «eingebetteten Journalismus», der in den USA seit dem Irakkrieg bestimmend wurde und die Journalist_innen zu Sprecher_innen der operierenden Militäreinheit macht. Sarah Glidden und ihre Freund_innen, Sarah (Stuteville) und Alex (Stonehill), die zu Hause in Seattle die Plattform www.seattleglobalist.com für unabhängigen, innovativen Journalismus betreiben, setzen dagegen ihre Arbeit ständig der Kritik aus (ihrer eigenen zuallererst) und führen vor, wie sehr das Einmaleins journalistischer Grundsätze keineswegs obsolet ist: «Ist etwas informativ? (…) Kann man es überprüfen? (…) Kann man sich auf die Quellen verlassen? (…) Und falls wir rausfinden, dass etwas nicht wahr ist, steht derjenige dafür gerade?»
Dass eine derart elementare Selbstdisziplin im Journalismus keineswegs selbstverständlich ist, lehren – von den Sozialen Medien ganz abgesehen – gegenwärtig zahlreiche (Schein-)Gefechte über facts, fake news und alternative facts nicht allein im US-amerikanischen Politikalltag. Die Fragen nach journalistischer Ethik gehen freilich über das selbstverständliche Ethos («Täusche niemanden, arbeite unabhängig, richte keinen Schaden an») hinaus. Wozu und für wen ist Journalismus gut? Wie reagiert man, was macht man angesichts des Elends einzelner Gesprächspartner_innen, die man gerade interviewt? Dass journalistischer Aktionismus auch legitim sein kann, hat Glidden zuletzt (Jänner 2017) mit anderen Zeichner_innen gezeigt, als sie gegen Spenden zur Unterstützung von Anwält_innen für die Aufhebung der Einreisesperre in die USA Comics gezeichnet hat.
Blöd, dass ihr einmarschiert seid
Auf ihrer Nahostreise wird die journalistische Arbeit außerdem durch den Umstand auf den Prüfstand gestellt, dass ein Freund aus Kindertagen, der vier Jahre als US-Soldat im Irak gekämpft hatte, die Gruppe nun als Zivilist begleitet. Die Idee, dass dieser Dan sich auf der Reise zu seinen Erfahrungen und Reflexionen interviewen lässt, stößt auf beharrliche Widerstände, sorgt für zusätzliche Spannungen, aber auch für eine stete kontroversielle Sicht auf das Erfahrene. Für die hartnäckige Überzeugung, mit der Invasion im Irak «was Gutes getan» zu haben, bekommt Dan im kurdischen Norden Iraks noch teilweise Zustimmung, doch spätestens im Gespräch mit irakischen Flüchtlingen in Syrien wird diese Gewissheit von bitteren Vorwürfen Lügen gestraft: «Warum seid ihr einmarschiert?», fragt ein einstiger irakischer Militär: «Euretwegen ist der Irak am Ende.» Das Urteil der ehemaligen Apothekerin, deren einzige Sorge ihr 17-jähriger Sohn ist, fällt noch härter aus: «Amerika hat mein Land angezündet und wir haben alles verloren. Und ihr glaubt, es ist jetzt besser im Irak?» Die Flüchtlinge sind wütend, und die USA und der Westen wissen nichts davon! Dabei ist Syrien zu dieser Zeit, was heute unglaublich klingt, noch «ein Schutzraum» vor der entfesselten Gewalt zwischen Sunnit_innen, Schiit_innen und anderen Minderheiten im Irak.
Dann ist da noch die Geschichte von Sam, einem irakischen Kurden, der in den 1990er-Jahren aus Bagdad in den Iran flieht, anschließend nach Pakistan, schließlich in den USA Asyl erhält und dort mit seiner Tochter und seiner zweiten Frau ein glückliches Leben führt. Bis er 2003 plötzlich mit einem Attentäter von 9/11 in Verbindung gebracht wird und, da ihm keine Schuld nachgewiesen werden kann, wegen einer Unregelmäßigkeit bei der Einreise außer Landes gebracht wird, während Frau und Tochter in den USA zurückbleiben. Zu aller Überraschung hegt Sam keinen Hass auf dieses Land, im Gegenteil, er ist mit Leidenschaft US-Amerikaner geworden und ist es im Herzen geblieben. Seine Geschichte ist unvergleichlich, und dennoch teilt er mit tausenden, mit Millionen Menschen aus dieser Region das Schicksal eines Vertriebenen.
Befremdete Fremde
Man kann Gliddens in matten Aquarellfarben kolorierten Comic als Anklage gegen den Westen lesen; tatsächlich zeigt er, wie sehr die Region des Nahen Ostens bereits 2010 von den Vertreibungen gezeichnet ist, die zu den verheerenden Folgen der Irakkriege seit den 1990er Jahren gehören. Schließlich ist der Comic ein Versuch, den vielen Geflüchteten dieser Region einen Teil ihrer Geschichte zurückzugeben, ein Gesicht zu geben. Flüchtlinge werden allzu gern als Fremde betrachtet. Die Betroffenen selbst erleben es ihrerseits als befremdend, dass sie nur noch über Flucht und Krieg definiert werden. Gerade in den verkürzenden Zuschreibungen, mit denen die Asylsuchenden gleichsam auf eine griffige Formel minimiert werden, drückt sich eine Form der Gewalt aus, die sich ein weiteres Mal gegen sie wendet. Umso eindringlicher wirkt der Satz der irakischen Studentin Sarab, den sie nebenbei äußert: «Wir waren Menschen vor dem Krieg.»
Sarah Glidden: Im Schatten des Krieges.
Reportagen aus Syrien, dem Irak und der Türkei Reprodukt 2016,
304 Seiten, 29 Euro