Vor dem RiesenradDichter Innenteil

Herr Groll auf Reisen. 276. Folge

Der Dozent hatte seinen Bekannten in den Prater gebeten. Er wolle ihm eine erfreuliche Überraschung bereiten. Als Treffpunkt hatte der Dozent den Platz vor dem Riesenrad vorgeschlagen. Pünktlich erschien Herr Groll. Mit ausgebreiteten Armen eilte der Dozent auf ihn zu.

Foto: Mario Lang

«Geschätzter Freund!», rief er schon von weitem. »Willkommen an diesem historischen Tag. Die niederen Stände werden erhoben.»

«Wie meinen Sie das?» Die beiden schüttelten Hände, der Dozent erklärte. «Wie Sie sicherlich wissen, wurde das Riesenrad 1897 zum 50-jährigen Thronjubiläum von Kaiser Franz Joseph erbaut. 1916 wurde der Erbauer und Eigentümer enteignet, dann übernahm ein jüdischer Besitzer die Attraktion, sie wurde 1938 arisiert und danach dem Denkmalschutz überantwortet. Der Besitzer, Eduard Steiner, wurde 1944 in Auschwitz ermordet.»

«Österreichische Lösungen», sagte Groll. «Enteignen, arisieren, ermorden und die ganze Sauerei dann unter Denkmalschutz stellen.»

«Eine radikale Sicht der Dinge. Aber argumentierbar», beschied der Dozent. «Wir wollen dennoch den heutigen Feiertag gebührend begehen, ich lade Sie auf ein Glas Sekt ein.»

«Machen Sie es nicht so spannend. Was feiern wir denn?»

«Nicht mehr und nicht weniger als die Barrierefreiheit des Riesenrades. Im Zuge der Neubestückung mit breiteren Waggons – man hielt sich an die ursprünglichen Pläne aus 1897, die 1945 angebrachten Waggons waren enger und entsprachen nicht dem Original – ist der Einstieg auch für Rollstuhlfahrer ohne Probleme möglich. Die Vertreter der niederen Stände können endlich ungestört den Wiener auf den Kopf …»

«Nein, das werde ich nicht», rief Groll. «Das ist in höchstem Maß ordinär und schickt sich für einen kultivierten Floridsdorfer nicht!»

«Sie können den Wienern auf den Kopf schauen, lieber Groll. Etwas anderes hab ich nicht gedacht.»

«In Floridsdorf denkt man bei der Phrase an etwas anderes.»

Wenig später saßen der Dozent und Groll in «Kolariks Praterfee». Er habe Groll neulich von Manfred Haimbuchner, dem Chef der oberösterreichischen Freiheitlichen und Koalitionspartner von Landeshauptmann Pühringer erzählt, sagte der Dozent. «Sie wissen schon, der junge Mann mit dem HJ-Scheitel.»

Groll nickte.

«Ich erwähnte damals, dass Haimbuchner einen Lieblingsautor hat, Ernst von Salomon. Ein rechtsgerichteter Publizist und Romancier.» Groll nickte wieder, der Dozent fuhr fort. «Ich habe Haimbuchner unterschätzt. Nach ein wenig Recherche stellte sich heraus, wes Geistes Kind dieser Ernst von Salomon war.»

«Mitglied antisozialistischer Todesschwadronen Anfang der zwanziger Jahre und danach machte er unter den Nazis und später in Westdeutschland Karriere.»

«Bravo», sagte der Dozent. «Das ist aber nicht alles. Die Ermordung des deutschen Außenministers Walter Rathenau war einer von mehreren Fememorden der jungen Weimarer Republik – und Ernst von Salomon war in die Vorbereitungsarbeiten und die Planung wesentlich miteinbezogen. Rathenau hatte kurz zuvor den Vertrag von Rapallo unterzeichnet, einen Vertrag, der militärische und wirtschaftliche Bande zwischen dem ausgegrenzten Deutschland und dem jungen Sowjetstaat knüpfte. Am Morgen des 24. Juni 1922, einem Samstag, wollte Rathenau ins Auswärtige Amt, er stieg in den Fond seines offenen Cabriolets. Obwohl es im Vorfeld Attentatsdrohungen gegeben hatte, fuhr er ohne Polizeischutz. Auf dem Weg von Grunewald in die Stadt wurde er von einem offenen Mercedes überholt, zwei junge Männer schossen mit einer Maschinenpistole auf Rathenau und warfen zur Sicherheit noch eine Handgranate. Die Attentäter waren Mitglieder der 5000 Mann starken ‹Organisation Consul›, einer rechtsradikalen Truppe, der auch Ernst von Salomon angehörte. Er hatte beim Rathenau-Mord bei den Attentatsvorbereitungen als Verbindungsmann fungiert, Fahrstrecke und Wohnhaus Rathenaus ausgespäht. Er wurde dann auch mitangeklagt. Dabei stellte sich heraus, dass er auch an anderen Fememorden beteiligt war. Die ‹Organisation Consul› war anfangs ein Konkurrenzunternehmen zu den Nazis, später gingen die meisten Kämpfer in SA und SS über. Muss ich dazusagen, dass Rathenau einer jüdischen Familie entstammte? Der Mord am Außenminister wurde in der NS-Zeit verherrlicht, die Beteiligten geehrt – wie der Mörder von Dollfuß, Otto Planetta. In Hitlers Leibgarde befanden sich zwei ‹Consulaner›. Der stellvertretende Landeshauptmann Österreichs bekennt sich also zu einem schriftstellernden Judenmörder.»

«Wahrscheinlich hat Salomon das Attentat nicht bös gemeint. Mit einem Wort, eine Jugendsünde», erwiderte Groll.

«Ich frage mich, was in Haimbuchners Kopf vorgeht.»

Groll lächelte schmal. «Ich frage mich nicht. Ich weiß es.»