Vorstadtfeelingtun & lassen

Illustration: Thomas Kriebaum

Speakers' Corner (8. November 2023)

Jetzt wohnen wir also nicht mehr in der Stadt. Das heißt: Wir wohnen Nähe Seestadt. Wollen wir ins Zentrum, sagen wir neuerdings: «Ich fahre in die Stadt.» Hier kutschieren sich Bewegungsfaule für einen Liter Kuhmilch mit dem Auto in den Supermarkt, obwohl Gehwege, Busse und Räder seit Langem als erfunden gelten. Über die Seestadt dröhnen Flugzeuge im Minutentakt. Ich sag (nach hinten zum Flug- und Fahrzeug-begeisterten Kind im Fahrradsitz): «Die machen leider die Bäume kaputt.» Ich sag eh nicht: «Ich weiß nicht, was für eine Zukunft du mal haben wirst, und ob.»
Die Entscheidung fürs zweite Kind, das mir beim Auf- und Absteigen noch zwei, drei Wochen an die Lenkstange bumpern wird, habe ich mit Ignoranz und Egoismus getroffen. Ich mache mir täglich Gedanken darüber. Würden alle so leben wie ich, bräuchten wir «nur» 1,18 Erden, sagt mein ökologischer Fußabdruck. Ich fühle mich geschmeichelt. Dann bemerke ich, dass sich das trotz «Gratulation» nicht ausgeht. «Hope dies, action begins» lese ich auf der Parents For Future-Homepage. Ich lege auf der Couch die Beine hoch. Die Beine sind schwer, die Krampfadern schmerzen, schwöre! In der Seestadt tanzen die Kräne immer noch ihr Ballett. Dabei ist das beste Haus das, das gar nicht gebaut wird. In der Seestadt ist Armut unsichtbar. Dabei ist die beste Armut die, die gar nicht existiert. Die einzige (sichtbar) obdachlose Person in zwei Monaten Vorstadt liegt eines Tages unter dem Klettergerüst auf dem Spielplatz. Zum Glück will das Kind schaukeln.

Hier schreiben abwechselnd Nadine Kegele, Grace Marta Latigo und Weina Zhao nichts als die Wahrheit.

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