Zeichnungen aus dem ganz normalen Leben eines Wohnungslosen
«Penner» erzählt aus dem Leben des wohnungslosen Walter, als wäre es das Buch zur Stadparkdebatte. Da ist die Polizei, die das «Kampieren» verbietet, der Sozialarbeiter Erik, der nur Walters Bestes will, und der Alkohol, der die kalten Nächte und die schlechten Erinnerungen erträglich macht. Und vielleicht ist da ein neues Leben, an dem Walter teilhaben wird. Irgendwann. Lisa Bolyos hat die Graphic Novel von Christopher Burgholz gelesen – und vieles darin ist ihr irgendwie bekannt vorgekommen.«Hallo? HALLO! Sie dürfen im Stadtzentrum nicht kampieren.» Zwei Polizist_innen beugen sich über den schlaftrunkenen Walter. «Ich kampiere nicht, ich versuche zu schlafen», antwortet der wahrheitsgemäß, was ihm auch nichts einbringt außer einer Nacht in einer kargen Zelle in der Polizeistation.
Walter ist ein Mann, wie es auch unter den Augustinverkäufern, unter den Stadtpark-Übernachtern und allen anderen Verarmten dieser Stadt viele gibt: Er hat sich, man erfährt nicht, warum, ein Alkoholproblem aufgerissen, daraufhin seinen Lohnarbeitsplatz verloren, und dann hat sich die Ehefrau mit der gemeinsamen Tochter aus seinem Leben verabschiedet. Nachts hat er Bauchschmerzen (die Bauchspeicheldrüse, sagt der Arzt, zu dem man auch ohne Versicherungskarte gehen kann), die dämpft er mit hartem Alkohol («Zar, 50 %. Eigentlich ungenießbar, aber für mehr reicht es heute nicht.») – und den wiederum bezahlt er mit den Münzen, die beim Pfandflaschensammeln reinkommen. Erik, der Sozialarbeiter, würde sich wünschen, dass Walter ein bisschen besser auf sich aufpasst («Du nervst, Erik», sagt Walter und legt dabei resigniert den Kopf in den Nacken. Eine dieser kleinen Gesten, die Burgholz’ Zeichnungen so besonders machen); Erik will, dass Walter zur «Tafel» geht statt im Müll nach Essen zu suchen, dass er den Arzt konsultiert und dass er nicht auf der Straße schläft. Aber in der Notunterkunft sind die anderen viel zu laut und das Bettzeug verdreckt. Und im Park stören maximal die Tauben; solange es nicht regnet.
Manchmal – «Niemand ist gern völlig allein» – geht Walter auch zu seinem Freund Helmut, der sich unter der Brücke ein Wohnzimmer eingerichtet hat und der steigenden Demenz nicht viel entgegensetzen kann außer einer kurzen Lebenserwartung. Und manchmal träumt Walter davon, seine Tochter wiederzusehen und an diesem neuen Leben teilzuhaben – denn das alte ist vorbei, ob man drum heult oder nicht.
Wenn schon Bobos, dann bitte solche
Für «Penner» hat der junge Zeichner Christopher Burgholz den «Gramic»-Award bekommen. Zu Recht, weil er die Geschichte so wenig aufgeregt erzählt und die wichtigen Kleinigkeiten trotzdem nicht auslässt. Zum Beispiel, dass die Polizist_innen Walters Brille kaputt machen, als sie ihn ins Polizeiauto drücken, und darüber kein Wort verlieren. Oder dass der Nachtportier im Notquartier Zettel abheftet, während er Walters Frage mit einem «Nee» beantwortet. Ein «Nee», das sichergehen will, dass ihm keine weiteren Fragen folgen. Die kleinen Gemeinheiten, die Ungereimtheiten, die Gewaltakte, die fast niemand sieht, die die Verteilung der Positionen im Brettspiel namens Gesellschaft immer wieder aufs Neue festsetzen – und die der Alkohol ein wenig erträglicher macht.
Aber auch mit schönen und liebevollen kleinen Details ist das Buch ausgeschmückt, da ein Zoom auf die dampfende Teetasse, hier zwei Tauben, die beim Aufblättern des Buches nach rechts wegzufliegen scheinen – oder fliegen sie in die Geschichte hinein? Das ist die Art Firlefanz, die handgemachte Buchkunst so wertvoll macht, immer ein bisschen mehr, als unbedingt nötig gewesen wäre. So sind sie, die Publikationen im Jaja Verlag.
Notiz an Manuskripte-Einsender_innen: «Lebensläufe sind nicht uninteressant, aber das erste Augenmerk liegt auf dem Strich und einem undefinierbaren Gefühl», so steht es auf der Verlagswebsite. Den Jaja Verlag gibt es seit 2011, er wurde von einer Illustratorin (Annette Köhn) gegründet, mit Sitz in (wo, wenn nicht) dem Berliner Stadtteil Neukölln, wo alles passiert, was prekäre Kreativbranche genannt werden kann, im Guten wie im Bösen. Aber man will ja nicht als undifferenziert verschrien sein, und darum ist es schon fair (was für ein passendes Vokabel übrigens für diese Branche) zu sagen, dass, wenn schon Bohémien_nes, dann bitte solche, die Buchverlage machen mit politischen Inhalten in liebevoller Form.
Der Raum, natürlich ein kreativ-kollektiver, in dem der Verlag sein Nest gebaut hat, nennt sich «Musenstube»; Lilli Grün hätte das gefallen und Mascha Kaléko wohl auch. Und darum kann es so schlecht nicht sein, denkt die Autorin dieser Zeilen, die den Verfall durch Aufwertung in Berlin-Neukölln aus sicherer Ferne argwöhnisch beobachtet. Und sich fragt, ob Verarmung auch mit steigenden Mietpreisen zu tun hat, und ob der Walter in Neukölln dann wenigstens ungestört auf der Straße schlafen könnte oder die Berliner Polizei das neuzugezogene Hipsterpublikum vor seinem Anblick schützen wollte. In der Musenstube würde er wohl einen dampfenden Tee bekommen. So viel Zuversicht ist angebracht.
Christopher Burgholz: Penner
Jaja Verlag, Berlin 2014, 68 Seiten, 14,40 Euro