Wandern und Denkenvorstadt

In Trattenbach kommt man um die Philosophie nicht herum

Warum wird ein Professor aus ­Cambridge Volksschullehrer in Trattenbach? Werner Rauchberger (Text) und Helga Rauchberger (Fotos) begeben sich auf den Spuren des Philosophen Ludwig Wittgenstein in die einsame Wechsel-Gegend und reflektieren über dessen Erkenntnisse entlang des gleichnamigen Wanderweges.

Das zwischen Wechsel und Semmering gelegene hintere Feistritztal fristet zwar ein Mauerblümchendasein inmitten stärker besuchter Wandergebiete der Region, hat aber einige sehr schöne landschaftliche und kulturelle Besonderheiten aufzuweisen. Einst galt der Hauptort dieses Tales Trattenbach als eines der wichtigsten Goldbergbaugebiete Österreichs. Die Suche nach dem edlen Metall gab man erst im Jahre 1925 auf. Die heutige Bekanntheit lässt sich allerdings auf ein Ereignis des Jahres 1920 zurückführen. Im September trat der neue Volksschullehrer Ludwig Wittgenstein seine Stelle an, die er in den folgenden zwei Jahren ausüben sollte. Wittgenstein ist zu dieser Zeit bereits über dreißig. Sein bekanntestes Werk, der «Tractatus logico-philosophicus» ist bereits geschrieben, wird aber von der breiten Fachwelt nicht anerkannt. Wittgenstein macht eine bittere Zeit durch. Er, der in Cambridge studiert hat, ist aus schierer Verzweiflung in eine Lehrerbildungsanstalt eingetreten und leidet unter der, wie es ihm erscheint, Demütigung, mit halben Kindern die Schulbank drücken zu müssen. Die neue Umgebung kommt jedoch seinem Hang zum Asketentum sehr entgegen. Zuvor hat er das von seinem schwerreichen Vater, dem Industriellen Karl Wittgenstein vermachte Millionenvermögen abgelehnt – es wird von seinen Geschwistern verwaltet. Wittgenstein gestaltete den Unterricht so abwechslungsreich wie nur möglich und beschäftigte die Kinder auch handwerklich. Mehrmals fuhr er mit seinen Schüler_innen nach Wien, besuchte Museen und Bauwerke und organisierte eine Schifffahrt auf der Donau. Die Reisekosten für ärmere Kinder übernahm er dabei stets selbst und versorgte das eine oder andere Kind auch mit geeignetem Schuhwerk. Jedenfalls erinnerten sich viele Schüler_innen gerne an die ungewöhnlichen Unterrichtsmethoden Wittgensteins. Allerdings machte er sich damit bei den meisten Eltern seiner Schüler_innen unbeliebt, da er sich nicht an die Schulzeiten hielt und die Kinder zu Hause als Arbeitskraft fehlten. Aufgrund einer Intrige des Ortsschulrates war sein Aufenthalt in Trattenbach nicht von langer Dauer. Er wurde nach Puchberg am Schneeberg und dann wieder zurück ins nahe gelegene Otterthal versetzt. 1926 reichte Wittgenstein dann von sich aus seinen freiwilligen Rücktritt ein und kehrte an die Universität nach Cambridge zurück.

Ausgestattet mit diesen Informationen können wir uns jetzt dem Wandern widmen.

Zitate säumen den Weg.

Wir starten unsere Tour auf dem Wittgensteinweg T2 bei der Wittgenstein-Volksschule in Trattenbach, und tatsächlich werden wir entlang der Route mit Zitaten aus dem philosophischen Schaffen Wittgensteins konfrontiert. Hand aufs Herz – wer hat das berühmte Traktat zur Gänze gelesen? Im Bewusstsein, wie unzugänglich das Werk ist, stellen diese 16 Zitate-Tafeln eine kleine Hilfe dar. Passagen wie «Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen» sind ja durchaus bekannt geworden. Entlang des beschaulichen Weges, der keinerlei technische Schwierigkeiten aufweist, kommen wir immer wieder zu schönen Aussichtsplätzen mit Tiefblicken auf Trattenbach. Wir passieren auch den Trahthof, wohin Wittgenstein zum Essen oder Milchholen gegangen ist. Ein Bildstock entlang eines Straßenstückes erinnert daran, dass während des Ersten Weltkrieges im Jahre 1916 Weberinnen aus der Textilfabrik in Trattenbach an der Errichtung dieser Straße beteiligt waren. Zurück im Tal geht’s an dieser in der Zwischenzeit stillgelegten Fabrik, die auch zu einem Wahrzeichen des Tales geworden ist, vorbei und anschließend wieder zum Ausgangspunkt Volksschule zurück. Die ganze Runde nimmt nicht mehr als zwei Stunden in Anspruch. An Sommerwochenenden lohnt dann auch durchaus ein Besuch des Wittgenstein-Museums, wo man tatsächlich Wittgenstein-Fans aus aller Welt trifft!

Diese Fans treffen sich dann auch regelmäßig im nahegelegenen Kirchberg zum Wittgenstein-Symposium. Diese Veranstaltung wurde von der Gemeinde Trattenbach aus Kapazitätsgründen ausgelagert. Der Besucher_innenandrang würde die 553-Seelen-Gemeinde einfach überfordern.

Im Endeffekt ist der Name Wittgenstein aber wohl nur mehr für die Fachwelt ein Begriff. Ich möchte hier eine interessante Geschichte zitieren. Im August 2000, 49 Jahre nach Wittgensteins Tod, kündigte ein Lokalredakteur unter dem Titel «Philosoph holt Symposium» die Sensation schlechthin an: «Unter anderen nimmt auch Ludwig Wittgenstein an dem philosophischen Treffen teil.»

Die leibliche Wiederauferstehung blieb aus – das Symposium ist aber trotzdem bis heute eine der wichtigsten Veranstaltungen zum Gedankenaustauch innerhalb der philosophischen Welt.

Mahnweg mit 2400 Höhenmetern.

Die Betrachtungen über Wittgensteins Werk machen natürlich auch hungrig und durstig. Eine Stärkung in einem der Gasthäuser Trattenbachs rundet die Tour deshalb zünftig ab. Wenn man noch dazu ein Faible für Geologie hat, kann man dort auch die Broschüre «Vom Sein des Steins» erwerben, die sehr informativ über die erdgeschichtlichen Besonderheiten dieser Gegend informiert.

Natürlich gibt es mit Trattenbach als Ausgangspunkt eine Reihe von schönen und interessanten Wanderrouten, die einen Ausflug lohnen. Erwähnen möchte ich dabei vor allem die Wandermöglichkeiten auf die Steyersberger Schweig oder den Großen Otter – das sind dann schon zünftige Tagestouren in abwechslungsreichen Wald-und Almenlandschaften!

Hat man eine spezielle Affinität zur österreichischen Geschichte, dann kann man von Trattenbach auch zum Gebirgsjäger-Gedächtnisweg Ostalpen aufsteigen. Auf diesem Weg wird man an die letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges im April 1945 erinnert. Die Region wurde damals Kampfgebiet, und bei den erbitterten Kämpfen zwischen deutschen Truppen und der anrückenden russischen Armee verloren über 2000 Menschen ihr Leben. Der Wanderweg führt entlang dieser Kampffront und soll vor allem als Mahnweg für die Nachwelt dienen, und einige mehr oder weniger gut erhaltene Tafeln erinnern dann auch an die Vorkommnisse während dieser Kämpfe. Der gesamte Weg, der vom Pfaffensattel am Stuhleck über den Sonnwendstein bis Payerbach und schließlich auf das Plateau der Gahns führt, ist 38 Kilometer lang und überwindet etwa 2400 Höhenmeter in Auf-und Abstieg. Der Weg weist keine besonderen Schwierigkeiten auf und bietet neben vielen Abschnitten mit hervorragenden Ausblicken wildromantische Täler und Gräben, die es zu überwinden gilt. Spezialist_innen können die Tour in einem Tag bewältigen – ich empfehle aber die Strecke in zwei Tagen abzuwickeln. In diesem Falle ist der Genussfaktor wesentlich höher!

Einziger Wermutstropfen, und das gilt leider für die gesamte Wechselregion, ist die schlechte öffentliche Verkehrsanbindung. Hier benötigt man einen PKW, um sich diese schöne und naturbelassene Gegend zu erschließen. Die Einführung eines Wandertaxis mit Anbindung an die Bahnhöfe der Südbahnstrecke wäre da eine durchaus sinnvolle Einrichtung.

 

Wanderatlas Wiener Hausberge

Freytag & Berndt 2014, 200 Seiten, 14,99 Euro

Die Broschüre «Wittgenstein in Trattenbach» ist im Gemeindeamt Trattenbach erhältlich.