Mittlerweile wird auch im Kärntner Gailtal die NS-Vergangenheit aufgearbeitet
In Hermagor veranstaltet der Verein «Erinnern Gailtal» regelmäßige «Stadtspaziergänge gegen das Vergessen», bei denen Geschichte lebendig wird. Chris Haderer (Text & Fotos) ist ein Stück Weg durch die Kärntner Erinnerungskultur mitgegangen.
Ein Samstagnachmittag in der Kärntner Bezirkshauptstadt Šmohor, von den Einheimischen auch Hermagor genannt. Vor der Neuen Mittelschule haben sich etwa 15 Personen versammelt. Auf sie wartet eine knapp zweistündige Wanderung der besonderen Art, nämlich ein «Stadtspaziergang gegen das Vergessen». Veranstaltet wird er seit dem Jahr 2013 vom Verein «Erinnern Gailtal», der sich intensiv mit der Aufarbeitung der gerne verdrängten und vergessenen NS-Vergangenheit der Region auseinandersetzt. «Es ist eine unbequeme Tatsache, dass sich NS-Gräuel nicht in fernab gelegenen Gebieten und Städten des Dritten Reiches zugetragen haben, sondern auch in unserer kleinen Bezirkshauptstadt», sagt Bernhard Gitschtaler, der mehrere Bücher zum Thema geschrieben hat, unter anderem «Das Gailtal unterm Hakenkreuz» (Kitab Verlag, Klagenfurt/Celovec) oder «Ausgelöschte Namen. Die Opfer des Nationalsozialismus im und aus dem Gailtal» (Otto Müller Verlag, Salzburg). Das Erinnern fällt in Kärnten bisweilen etwas schwer: Bis vor zehn, fünfzehn Jahren sei es im Bundesland der Freundschaftsurlauber_innen überhaupt Usus gewesen, die NS-Vergangenheit aus der Geschichtsschreibung weitgehend auszuklammern – was «mittlerweile etwas besser geworden ist, obwohl man uns immer noch ständig Steine in den Weg legt», sagt Gitschtaler, der schon wegen seines Namens eine gewisse Verwurzelung mit der Gegend nicht verleugnen kann: Auf der Landkarte ist Hermagor an der Einmündung des Gitschtals ins untere Gailtal zu finden, in der Nähe der italienischen Grenze.
In Hermagor gibt es eine Reihe von Sehenswürdigkeiten, die brav im Stadtplan des Tourismusbüros eingetragen sind, wie beispielsweise die Schlösser Möderndorf und Lerchenhof, die Burgruinen Malenthein und Khünburg oder die Filialkirche Schlanitzen. Die Plätze allerdings, die uns Bernhard Gitschtaler während des Stadtspaziergangs vorführt, stehen nicht auf der offiziellen Liste. Dazu gehören unter anderem der Hauptplatz, der – wie in jeder zweiten größeren Ortschaft in Österreich – einmal Adolf-Hitler-Platz hieß, das Armenhaus, die Soldatengedenkstätte, die Neue Heimat oder die Neue Mittelschule, auf deren Sportplatz sich während der NS-Zeit das Maidenlager des Reichsarbeitsdienstes befand. «Während den gefallenen Wehrmachts- und SS-Soldaten seit jeher viel Platz im kollektiven Gedächtnis eingeräumt wird, existiert eine kritisch-historische Aufarbeitung über die regionale Mitverantwortung an den NS-Verbrechen nicht», sagt Bernhard Gitschtaler. Oft erinnert man sich lieber an die gefallenen Täter als an die ermordeten Opfer, weshalb der Stadtspaziergang «zentrale Orte des nationalsozialistischen Herrschafts- und Gesellschaftssystems sowie Orte des rechten oder rechtsextremen Gedenkens» aufzeigen soll. «Erinnern», so der Politikwissenschaftler, «bedeutet auch Handeln.»
Eine Gedenktafel für einen Polizeiposten.
Hermagor hat einen Bahnhof und etwas weniger als 6800 Einwohner_innen, von denen laut der letzten Volkszählung im Jahr 2001 überwiegende 94,7 % die österreichische Staatsbürgerschaft hatten, 1,6 % die deutsche, 1,1 % die bosnische und 1,0 % die kroatische. Die Glaubensmehrheit liegt mit 68,8 % bei den Katholik_innen, 25,6 % der Einwohner_innen bekennen sich zur evangelischen Kirche, 1,5 % zum Islam und 2,4 % kommen ohne vorgegebenes Gottesbild aus. Eine jüdische Community gibt es laut offiziellen Zahlen in Hermagor nicht – sie wurde von den Nazis ausgelöscht. Ein Beispiel dafür ist der Gemischtwarenladen Glesinger-Braun, der von 1929 bis 1938 in der Hauptstraße 38 bestand. Als Hitler 1938 die Parole «Keine Juden in der deutschen Wirtschaft» ausgab, gerieten Arthur Glesinger und sein Cousin Alfred Braun ins Schussfeld der Antisemit_innen in Hermagor und mussten das Geschäft schließen. Das Gebäude wurde arisiert, Glesinger floh nach Palästina, kehrte nach dem Krieg nach Österreich zurück und starb 1957 vollkommen verarmt in einem Altersheim in Villach. Am Haus sehen wir eine Gedenktafel, die daran erinnert, dass hier vor etwa 150 Jahren ein Polizeiposten war – aber nicht «an ein jüdisches Geschäft, das der NS-Arisierung anheimfiel», erklärt Bernhard Gitschtaler.
Wir erreichen den Schützenpark: Viel Grün, schattige Bäume, Sitzbänke und ein auf den ersten Blick eher unscheinbares Denkmal für die «Gailtaler Schützen». Obwohl es bereits 1929 errichtet wurde und an den Ersten Weltkrieg und den Kärntner Abwehrkampf erinnern soll, ist es eigentlich ein Lehrbeispiel für die Propagandamaschinerie des NS-Regimes. «Wir stehen wie unserer Berge Wand und werden nicht wanken noch weichen», steht auf dem künstlerisch eher unbedeutenden Denkmal: «Es führt nur ein Weg ins Kärntnerland, der Weg über unsere Leichen.» Gemeint ist damit das vorwiegend aus Kindern und Großvätern bestehende Kärntner Freiwilligenregiment, das 1915 in den Karnischen Alpen den Einmarsch der Italiener verhinderte. 1945 wurde ihre Verteidigungsleistung von den Nazis für ihre eigenen Ziele ausgeschlachtet, die einen neuen «Kärntner Abwehrkampf» proklamierten. «Die morbiden NS-Phrasen und Durchhalteparolen zum Endsieg deckten sich dabei wortgleich mit der Inschrift auf dem Denkmal», sagt Bernhard Gitschtaler. «Bis heute sind sie in keinen Kontext gesetzt oder kommentiert worden.»
«Wir machen die Stadtspaziergänge in unregelmäßigen Intervallen und geben die Termine auf unserer Homepage bekannt», erzählt mir Bernhard auf dem Weg durch die Hauptstraße, die zwischen 1939 und 1945 Hubert-Klausner-Straße hieß, zum Hauptplatz. Klausner war der lokale Vorzeigenazi, der nicht nur als NSDAP-Gauleiter fungierte, sondern auch politische Ämter ausübte. Nach seinem Tod im Jahr 1939 in Wien erhielt der «Kärntner Andreas Hofer» ein Staatsbegräbnis, bei dem auch Adolf Hitler erschien. Heute erinnert nichts mehr daran: «Selbst Leute, die hier leben oder geboren sind, entdecken bei unseren Stadtspaziergängen immer wieder etwas Neues» beziehungsweise «viele sehen Dinge dann aus einer anderen Perspektive.»
Unter «ungeklärten Umständen» verstorben.
Wir erreichen den Hauptplatz. Eine Kirche, natürlich, Geschäfte, Wohnhäuser und Lokale, von denen eines «Gasthof Kaiser von Österreich» heißt und von dessen Wand Franz Joseph den ehemaligen «Adolf-Hitler-Platz» im Auge behält. «Über den Hauptplatz alleine könnte ich eine Stunde erzählen», meint unser Fachmann. Er hat einen Ordner mit alten Fotos dabei, die zeigen, wie es hier 1938 beim «Anschluß» ausgesehen hat: ein Meer aus Hakenkreuzfahnen vor einer erleuchteten Kirche. 4000 Menschen sollen es laut der NS-Gazette «Freie Stimmen» gewesen sein, die den Platz mit «brausendem Jubel» erfüllten. Im Haus neben der Kirche, wo sich die Erste Bank/Sparkasse niedergelassen hat, befand sich früher die Praxis von Albert Theodor Menninger-Lerchenthal. Er war beliebt, weil er Menschen ohne Geld auch kostenlos behandelte. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte er sich für ein Denkmal für die gefallenen Soldaten ein. Es wurde realisiert und 1937 von Menninger-Lerchenthal selbst zu einer Ode an den Krieg «heroisiert». Bei den Nazis fiel er dennoch in Ungnade, da sie ihn für einen «Halbjuden» hielten. Er verstarb 1944 auf der Radniger Alm unter «ungeklärten Umständen» im Beisein eines NS-Offiziers. Das Denkmal des «sterbenden Soldaten» wurde in den 1960er-Jahren auf den Hermagorer «Heldenfriedhof» am Rand des Stadtfriedhofs verlegt. Seit 2013 gibt es eine Gedenktafel für Menninger-Lerchenthal, die neben Gedenktafeln für gefallene Wehrmachts- und SS-Soldaten hängt. Von seiner jüdischen Abstammung und den Repressalien gegen ihn ist nichts zu lesen – was Bernhard Gitschtaler als «geschichtsrevisionistisch» ansieht. Der Blick vom Kriegerdenkmal auf den Friedhof hinunter beendet den «Stadtspaziergang gegen das Vergessen» in Hermagor, wo «Opfer und Täter dicht nebeneinander beerdigt wurden», wie der Politologe anmerkt.
Etwas mehr als zwei Stunden sind vergangen.
Nicht die Geschichte ist an uns vorbeigezogen, wir sind durch sie gegangen. Eine spannende Erfahrung, auch wenn man nicht aus Hermagor ist. Der «Stadtspaziergang gegen das Vergessen» ist ein exemplarisches Beispiel für Ereignisse, die überall in Österreich stattgefunden haben. Es sind bedrückende und tragische Geschichten, die sich hinter unscheinbaren Fassaden verbergen, und sie handeln von Menschen, die von Dämonen geschlagen wurden. Sich an sie zu erinnern kann das nicht ändern – aber vielleicht uns.
Lesung des Vereins «Erinnern Gailtal»
17. September, 18 Uhr
Kunstraum Ewigkeitsgasse
17., Thelemangasse 6
www.erinnern-gailtal.at
Am 25. September sendet zwischen
15 und 16 Uhr Radio Augustin auf Orange 94,0
einen Mitschnitt dieses Stadtspaziergangs.