Warum Wien für uns nicht die lebenswerteste Stadt isttun & lassen

Kommentar

Jahr für Jahr führt Wien die Städte­rankings an. Aber nicht für alle ist diese Stadt das Paradies auf Erden, meint Anna-Maria Apata.

Vor dem Burgtheater fährt ein kalter Windzug vorbei. Meine Freundin, ich nenne sie auch Wiener Sonnenschein, holt eine Strickjacke aus ihrem Rucksack und reicht sie mir. Manchmal der einzige Grund, warum ich diese trübe Stadt nicht einfach hinter mir lassen möchte: Menschen wie sie. Menschen wie ich. Man nennt uns von klein auf auch Menschen mit Migrationshintergrund. In dem hippen veganen Restaurant, in das wir gehen, sind alle Kellner_innen Menschen wie wir; Menschen mit anderer Hautfarbe und manchmal anderem Akzent. Wir schmunzeln über die gegenseitige Verwirrung, wissen nicht, ob wir uns auf Deutsch oder Englisch ansprechen sollen. Bei Menschen ohne Migrationshintergrund hätte uns diese an sich unproblematische Situation wenig amüsiert. Man hätte uns womöglich noch durch störrisches Nachfragen nach der Herkunft an unseren Platz verwiesen: außerhalb des österreichischen Selbstverständnisses.

Lebenswert für wen?

Nach sieben Monaten in Spanien lasse ich mich von den prächtigen Bauten des 1. Bezirks beeindrucken. Architektonisch imposant, das muss man Wien schon lassen. Warum meine Geburtsstadt allerdings Jahr um Jahr zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt wird, ist mir ein Rätsel. Für wen ist Wien so lebenswert? Eine Frage, die kaum auftaucht, wenn über die Lebensqualitätsstudien berichtet wird. Die Studie, die für das Städteranking am häufigsten herangezogen wird, ist die Mercer Quality of Living Study. Mercer ist ein internationales Beratungsunternehmen, das speziell im Bereich der Auslandsentsendungen tätig ist. Das ist deshalb essenziell für den Aussagegehalt der Studie, weil dafür nur sogenannte Expats befragt werden. Expats sind «Fach- oder Führungskräfte, die im Rahmen einer Auslandsentsendung vorübergehend an eine ausländische Zweigstelle entsandt werden». Doch was sind Expats anderes als Migrant_innen mit Privilegien, die kurzfristig hier leben? Wie aussagekräftig ist ihr Blick auf die Stadt für die breite Bevölkerung? Können sie das Lebensgefühl von Einwanderer_innen und deren Nachkommen realistisch widerspiegeln?
Nehmen wir das Thema Bildung: In der Mercer-Studie geht es nur um das Angebot und den Standard von internationalen Schulen – da ist Wien natürlich top, denn es gibt die Vienna International School, die American International School, die Danube International School, das Lycée français usw. Keine Schulen, in die Durchschnittswiener_innen ihre Kinder schicken können. Neben der Mercer-Studie ist Wien seit zwei Jahren auch Top 1 auf der Rangliste des Economist Intelligence Unit, einem Prognose- und Beratungsunternehmen, das eng mit der Wochenzeitung The Economist verbunden ist. Zweifel bezüglich der Repräsentativität in diesem Ranking kann allerdings nur prüfen, wer dafür 640 US-Dollar zahlt.

Unsere Wut ist berechtigt.

Ich sitze im Haus eines südasiatischen Botschafters in Wien – seine Tochter ist eine weitere herzliche Freundin, die mich im Zuge meines undiplomatischen Wienbesuchs beherbergt. Hier lässt es sich leben. Mit Panoramablick. Da kommt mir mein Wien wie das wahre Paradies vor. Doch die Idylle trügt. Erst vor wenigen Tagen wurde eine Gruppe Jugendlicher vor einem Club von Securi­ties verprügelt. Einer wurde dabei, während sie ihn auf dem Boden traten, als «Sklave, der es verdient hat», beschimpft. Mir reicht’s. Ich möchte meine Trauer und Wut nicht mehr verstecken.
Ich bin Wienerin, aber Wien ist nicht besonders lebenswert für mich, denn nichts ist so schmerzhaft. wie in der eigenen Heimat diskriminiert zu werden. Von klein auf musste ich mich einem europäischen Ideal anpassen, das ich nie vollkommen erfüllen kann, allein optisch nicht. Und in einer Stadt, die Jahr um Jahr zur weltbesten ernannt wird, wird einem kaum zugehört, wenn man von seinen Rassismuserfahrungen spricht.
«Menschen mit Migrationshintergrund» ist eine Bezeichnung, die man weder ins Englische noch ins Französische und Spanische so richtig übersetzen kann. Nur im deutschsprachigen Raum pocht man terminologisch so stark auf Abgrenzung. Den bereits eingedeutschten Begriff «People of Color», kurz PoC, finde ich zwar etwas gewöhnungsbedürftig, doch zumindest ist er eine Selbstbezeichnung. Ethnische Minderheiten, die in weißen Mehrheitsgesellschaften leben, schließen sich unter diesem Begriff solidarisch zusammen und machen aus ihrer Perspektive Rassismus sichtbar.

Die zweitschlechteste Stadt der Welt.

Es ist hart eine Minderheit zu sein. Es ist schwer, die einzige PoC unter lauter Nicht-PoC zu sein. Wenn man das Gefühl hat, keine Stimme und auch keine Repräsentation zu haben. Es gibt keinen Lebensbereich, der davon nicht betroffen ist. Wie oft wurde mir schon gesagt, ich solle auswandern, in Österreich habe man als PoC keine Zukunft. Wie oft habe ich selbst schon daran gedacht.
Im deutschsprachigen Raum gibt es noch sehr viel Bedarf an PoC-Power. Ich bin Journalist_innen wie Vanessa Spanbauer, Tori Reichel, Imoan Kinshasa, Malcolm Ohanwe, Aminata Belli und Anna Dushime sehr dankbar für ihre Arbeit. Doch es gibt noch mehr, und es geht noch mehr, davon bin ich mittlerweile überzeugt. Vorerst gehe ich trotzdem zurück nach Spanien und kaufe mir möglichst bald ein Ticket nach Lagos, der angeblich zweitschlechtesten Stadt der Welt. Or so they say.