Warum wir uns nicht zusammendividieren lassen sollen, sprach die EuleDichter Innenteil

Eine Tierfabel

Eine alte Eule grämte sich fürchterlich über die neue Regierung, darüber, dass die Hamster und so viele andere Tierarten gegen ihre Interessen die faschistischen Wölfe und die neoliberalen Bären gewählt hatten.

Illustration: © Richard Schuberth

Jene Tiere also, die vor der Wahl offen zugegeben hatten, dass sie die Kleintiere quälen und zwicken, den fremden Flamingos, Kamelen und Giraffen aber die Hälse umdrehen würden. Nicht dass die Eule die psychologischen Beweggründe dieses Wahlverhaltens erstaunte, sie war bloß entsetzt darüber, dass die Zeit des Erkennens von objektiven Interessen, der Sinn für Wahrheit im Untergehen begriffen war.

So flog sie zum großen Treffen der oppositionellen Tiere. Dort hatten die Waschbären und die Kraniche die Initiative ergriffen. Zumindest wirkten die anwesenden Eulen, Rotkehlchen und Bonobos ziemlich eingeschüchtert, weswegen ihnen ein paar schlaue Waschbären vorwarfen, dass man jetzt, wo Handeln erforderlich wäre, sähe, wer sich engagiere und wer nicht. Die Kraniche schlugen vor, Beauty Contests gegen Rechts zu veranstalten, weil man Jugend und Schönheit nicht den Rechten überlassen dürfe. Der Vertreter der Lamas indes sagte, dass man die Dummheit jetzt auf keinem Fall den Dummen überlassen dürfe.

Gegenstandpunkte


Das Gebot der Stunde sei, tönte der lauteste Waschbär, dass alle Tiere des Widerstandes ihre eitlen Interessen und wichtigmacherischen Gegenstandpunkte der gemeinsame Sache opferten, denn die Situation sei verdammt ernst und es müsse endlich Schluss sein mit Fraktionsbildungen und dieser ewigen Rechthaberei. Und man müsse all den kleinen Tieren, die sich für die Wölfe entscheiden, ein Angebot machen und ihre Bedürfnisse verstehen und ihre Sprache sprechen lernen. Diese Rede erhielt viel Applaus, löste aber bei einigen Tieren Unbehagen aus. Hilfesuchend blickten diese zur alten Eule rüber, der das peinlich war, denn sie war genauso befangen wie sie. Widerwilig begab sie sich also zum Rednerpult. Der Sektionschef der Waschbären forderte sie sogar dazu auf, doch ließ das spöttische Zucken seiner Maulwinkel keinen Zweifel darüber offen, dass er den Senf der Eule so nötig hatte wie Läuse im Pelz. Die Eule ertappte sich dabei, dass sie nicht aufs Podest flog, sondern linkisch mit ihren dünnen Beinchen die Stiegen hochhüpfte. Sie wusste selbst nicht, warum sie das tat, doch sie spürte, dass Fliegen gerade nicht besonders angesagt und die Stimmung ziemlich aufgeheizt war.

Sie räusperte sich und schloss die Augen, damit die angewiderten Blicke der Kraniche und Waschbären in der ersten Reihe sie nicht aus der Fassung brachten. Diese dachten aber: Sie sieht uns nicht einmal an. Haben wir es nicht schon immer gewusst?

Da nahm die Eule all ihre Kräfte zusammen und sprach:

Wir dürfen uns nicht zusammendividieren lassen. Was uns von den Unterstützern der Regierung unterscheidet ist, dass wir noch nicht gleichgeschaltet sind, deshalb ist der produktive Dissens unsere größte Tugend. Denn dass wir in vielen Fragen uneinig sind, ist doch der Beweis, dass wir noch denken können. Wir alle hier wissen wohl, was falsch an den herrschenden Verhältnissen ist, dass heißt aber noch lange nicht, dass wir uns darüber einig sein müssen, was richtig sein könnte.

Dissens

Weil wir uns immer einbildeten, nur für die Sache und nicht für uns zu kämpfen, ist der Vorwurf der Eitelkeit unsere Achillesferse. Und genau daran wollen die Populisten in unseren eigenen Reihen uns erwischen. Sie wollen den Dissens, das Weiterdenken, das Ungefällige und Komplizierte als ein Charakterproblem darstellen, als Wichtigmacherei, Originalitätssucht und Profilierungsneurose.

Glaubt mir, wenn es eine Invariante im gesamten Tierreich gibt, dann die, dass sich hinter angeberischer Bescheidenheit immer die größte Selbstgefälligkeit versteckt, hinter dem Zwang zur Gemeinschaft immer die Machtgier des Einzelinteresses, und mit dem Wunsch, auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben, sich die Unfähigkeit zu fliegen, als Vernunft und Reife darstellen will.

Denn, liebe Vier- bis Tausendfüßler, liebe Zweiflügler und Pantoffeltierchen, es verhält sich doch genau umgekehrt. Es gibt nichts Eitleres und Selbstgefälligeres als diesen Populismus, der unsere Wut und Ohnmacht ausnutzen will, um all die Tierarten, die sich um einen größeren Überblick bemühen, zum Schweigen zu bringen, und eine Einheitsfront auszurufen. Diese Einheitsfront soll nämlich nicht die Überwindung der Einzelinteressen sein, sondern bloß die Durchsetzung der Interessen der Waschbären, ihrer Sprache, ihrer Denkweise. Den Geflügelten unter uns wollen sie die Fähigkeit zu fliegen als Abgehobenheit vorwerfen. Dabei muss man nicht fliegen können, es reicht, einen Baum zu besteigen oder einen Felsen zu erklimmen, um einen größeren Überblick zu haben. Aber das ist hart und anstrengend und verspricht nicht so viel kollektives Partyfeeling wie die Happenings am Boden, der eben nicht der Boden der Realität ist. Sie rechtfertigen das unter anderem damit, dass man den Kontakt zu den systemkonformen Hamstern nicht verlieren dürfe. Deren Vertrauen man angeblich nur verloren habe, weil ein paar asoziale linke Tiere zu hoch sich in die Lüfte erhoben hätten. Nein, Genossen und Genossinnen, sie wollen, dass alle Tierarten die Waschbärensprache sprechen, weil das angeblich die Kommunikation erleichtere.

Methode


Fallt auf diesen Trick nicht rein. Alle, die das System nicht überwinden, sondern davon profitieren wollen, von ganz rechts bis links der Mitte, verwenden diese Methode. Die liberaleren unter den Bären sagen, wir dürfen jetzt nicht zu radikal sein, sondern die Wölfe abwehren, welchen sie ja selbst zur Macht verholfen haben. Danach können wir wieder ein kuscheliges Regime der Mörderbären haben so wie früher. Die linksliberalen Brillenkobras zischen ihre Opportunistenlosung, dass man jetzt realistisch sein und die sozialdemokratischen Opportunistenkröten unterstützen müsse, denn außer diesen, deren Schleimspur seit Generationen direkt zu den Wölfen und Bären führt, könne niemand den herrschenden Rudeln die Stirn bieten. Ihre Losung ist: Fordert das Mögliche, damit nicht mal dies verwirklicht wird.

Und dasselbe Spiel wird auch in unseren Reihen gespielt.

Wenn die Waschbären euch vorschreiben wollen, was jetzt wichtig ist und was nicht, füttern sie euch mit der dummen Illusion einer schlagkräftigen Einheit, die kurz davor wäre, Paris zurückzuerobern. Das ist eine lächerliche Selbstüberschätzung, die nur dazu dient, die eigenen Reihen zu säubern. Wenn wir für die Bären und Wölfe wirklich eine Gefahr darstellten, hätten sie schon andere Seiten aufgezogen. Wir sind eine Mücke, die sich nicht zu erschlagen lohnt. Dafür jagen sie die fremden Giraffen, Kamele und Flamingos und machen ihnen Knoten in die Hälse und amüsieren sich köstlich über unsere Hilflosigkeit dabei. Versteht mich nicht falsch, liebe behaarte, liebe gefiederte Genossen und auch du, lieber Genosse Nacktmull, damit wir für das System wirklich Wespen werden, müssen wir zuerst unsere narzisstischen Illusionen über unsere Stacheln aufstechen.

Haltungsschäden


Und noch was. Ihr alle, die ihr die Fähigkeit zu fliegen habt, und wenn nicht zu fliegen, dann zu klettern, um die größeren Zusammenhänge zu erkennen, ihr helft den armen Hamstern und den anderen Tieren, die den Wölfen und Bären hörig sind, nicht, wenn ihr zu ihnen runterkriecht. Sie haben zwar verlernt, die Wahrheit zu erkennen, aber sie spüren genau, dass ihr euch herabbeugt. Dass eure gleiche Augenhöhe das Arroganteste überhaupt ist. Dass eure Buckeln nicht artspezifisch, sondern Haltungsschäden sind. Und deswegen hassen oder verspotten sie euch.

Sie fielen auf die Wölfe und Bären unter anderem deshalb rein, weil sie diese als authentisch empfanden. Die Wölfe und Bären sagten nämlich, wir werden euch weh tun. – Und sie tun ihnen weh.

Ein gefakter Hamster wird von ihnen nie die Achtung bekommen, die ein feindlicher Flamingo, ein Bonobo, ein Rotkehlchen bekommen könnte, der dazu steht, ein Bonobo, ein Rotkehlchen, ein Flamingo zu sein. Es geht darum, die Sprache der Hamster zu verstehen, aber nicht die eigene zu verlieren. Es geht darum, die Lebensbedingungen aller zu verbessern, nicht Hamsterboogie zu tanzen.

Und lasst euch von den Waschbären nicht einreden, dass jede Kunst jetzt einen politischen Auftrag hätte. Gute Kunst ist ohnehin politisch, auch wenn sie nicht zum millionsten Mal tragische Flamingo- und Giraffenschicksale thematisiert. Es schadet der Kunst und inflationiert das Politische, wenn jetzt nur noch die Absicht und das Sujet darüber entscheiden, was Kunst soll und darf. Kein Wunder, dass bei diesem engagierten Widerstandsbiedermeier die besten politischen Künstler nur noch Gedichte über Rosen und Lilien schreiben. Wer die Idee von Freiheit vor Wolfsklauen und Bärentatzen retten will, erhalte auch das Recht auf individuelle Freiheit. Nichts ist schon gut, weil es wütend ist und kritische Absichten hat.

Lasst euch also von niemandem vorschreiben, was jetzt Vorrang und was Nachrang hat, was man sagen darf und was nicht, was jetzt wichtig sei und was nicht. Niemand wird hier bestimmen, ansonsten verlieren wir das Einzige, was uns zum Gallischen Dorf macht. Keine falschen Einheitsfronten. Eine reife Opposition verehrt ihre eigenen Ruhestörer, Spötter, Kritiker, Außenseiter, Weiterdenker und Skeptikerinnen, sie sind das Salz in der Suppe, sie sind das Ferment, dass den Teig treiben lässt, sie sind die Einzigen, die die Blasen unserer Illusionen heilsam zum Zerplatzen bringen. Wer sie marginalisiert, ist eitel. Viva la revolución.

Feige Herzen


Verhaltenes Klatschen. Viele derer, welcher die Eule aus dem Hirn gesprochen hatte, besaßen feige Herzen. Die Eule aber sagte «Habt mich alle gern», flatterte in ihren Baum zurück und wusste, dass es ihr bei der Opposition nicht besser ergehen würde als bei den Hamstern und Wölfen. Die Waschbären deuteten den Abflug der Eule als Flucht, als den vorhersehbaren Beweis, dass sie nur an sich selbst denke, asozial sei und der Bewegung schade. Doch wo bewegte sich die Bewegung hin? Sie veranstaltete viele Happenings, Flashmobs, antirassistische Beauty-Contests, rappte immer denselben nasalen Mittelstandsrap, dessen für Außenstehende schwer verständlichen Lyrics darin bestanden, dass man einander permanent lobte, wie super, kämpferisch, schön und leiwand man nicht sei. Die Bären ließen gegen den Widerstand der Wölfe auch mal ein paar Subventionen dafür springen. Und wenn sie noch nicht wie viele Flamingos und Giraffen gestorben sind, rappen sie auch heute noch.

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