Kriminalfall Nordbahnhalle
Die Nordbahnhalle ist abgebrannt. Die Notwendigkeit niedrigschwelliger Nachbarschaftsräume bleibt bestehen.
Text: Christian Bunke, Illustration: Much
20.000 Menschen wollen im Nordbahnviertel ihr Zuhause finden – ein lebendiger Stadtteil braucht ein lebendiges Nachbarschaftszentrum. Das Potenzial dafür zeigte sich, wie so oft in Wien, in Form einer Zwischennutzung: der Nordbahnhalle. Im Rahmen eines Forschungsprojekts der Technischen Universität Wien wurden dort allerlei künstlerische, handwerkliche und kulturelle Initiativen gegründet. 200.000 Besucher_innen nahmen an 521 Veranstaltungen teil, die allermeisten davon waren kostenlos zugänglich.
Damit die Halle dauerhaft nutzbar bliebe, unterschrieben tausende Nutzer_innen eine Petition an den Wiener Petitionsausschuss. Wien ist nicht reich an großen Räumen, die für nichtkommerzielle Aktivitäten zugänglich sind. Und die Stadt Wien hat ihren Anteil daran – man erinnere sich etwa an den Verkauf des Geländes der ehemaligen Sargfabrik in Liesing an die Soravia-Gruppe.
Angezündet? Abgebrannt.
Am 10. November brannte die Nordbahnhalle ab. Die IG-Nordbahnhalle, ein Bündnis verschiedener Gruppen und Einzelpersonen aus den Bereichen Kultur, Architektur, Städtebau sowie aus der Nachbarschaft und der Zivilgesellschaft, das sich für den Erhalt der Halle eingesetzt hat, schließt Brandstiftung nicht aus. «Der Strom war gekappt, es wurden keine Chemikalien oder Ähnliches gelagert, es hat in den letzten Tagen geregnet … Uns fehlt jegliche Vorstellungskraft, wie die Halle ohne Fremdeinwirkung abbrennen konnte», heißt es in ihrer Stellungnahme. Inzwischen ermittelt die Polizei.
Bei allen Spekulationen über die Brandursache darf nicht vergessen werden, dass nur wenige Tage vor dem Feuer politische Weichenstellungen getroffen wurden, die einmal mehr Einblick in die Prioritätensetzung der Stadt Wien bieten. Christoph Laimer von der IG-Nordbahnhalle stellt gegenüber dem AUGUSTIN klar: «Politisch wollte man die Halle vor dem Feuer nicht sanieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Politik die nun abgebrannte Halle saniert.»
Keine Debatte.
Am 7. November, drei Tage vor dem Brand, tagte der Wiener Petitionsausschuss. Auf dieser Sitzung war auch die Nordbahnhalle Thema. In einer Aussendung wird die Ansicht des Ausschusses so dargelegt: Die Nutzung der Nordbahnhalle sei von vornherein temporär angelegt gewesen; der Erhalt der Nordbahnhalle über das Jahr 2020 hinaus decke sich nicht mit den städtebaulichen Planungen und den darauf basierenden Beschlüssen für das Gebiet des ehemaligen Nordbahnhofs. Einzig die Prüfung möglicher «Finanzierungsbeteiligungen für eine Sanierung des Wasserturms» neben der Nordbahnhalle wurde empfohlen.
Die IG-Nordbahnhalle hat sich akribisch auf die Sitzung vorbereitet, erzählt Christoph Laimer. «Wir haben alle Stellungnahmen der anderen Akteur_innen gelesen, auf Widersprüche hingewiesen. Aber es kam von denen überhaupt nichts zurück. Es gab keinerlei Debatte.» Auch mit der Planungsstadträtin und Vizebürgermeisterin Birgit Hebein von den Grünen habe man Kontakt gesucht: «Wir haben seit Mitte Juli versucht, einen Termin mit ihr zu bekommen, und alle zwei Wochen wieder nachgefragt. Es gab keine Reaktion.»
Gastro im Wasserturm.
Die Stellungnahmen der IG-Nordbahnhalle sowie Auszüge aus Stellungnahmen der Stadt Wien sowie der als Grundstückseigentümerin auftretenden Österreichischen Bundesbahnen sind online nachlesbar. Von Seiten der ÖBB ist da etwa zu lesen: «Es wird daher angeregt, einen Schwerpunkt auf die kulturelle, gastronomische und soziale Entwicklung des Wasserturms zu legen. Dies soll in Kooperation mit der Stadt Wien, dem Bauträgerkonsortium Nordbahnhof und der ÖBB-Infrastruktur AG erfolgen.» Der Petitionsausschuss scheint diesen – rein kommerziellen – Nutzungsvisionen komplett gefolgt zu sein. Aus Sicht der IG-Nordbahnhalle ergibt sich hier ein Raumproblem: Der Turm sei nur 140 Quadratmeter groß und somit kein Ersatz für die sich über 3.500 Quadratmeter erstreckende Halle. Die «Anregungen» der ÖBB zeigen außerdem, «dass die ÖBB-Immobilien keinerlei Interesse an einer Bürgerbeteiligung hat».
Wien ohne Nachbarschaft.
Im Sommer stellte die Stadt Wien eine Verlängerung der Zwischennutzung um ein Jahr bis 2020 in Aussicht. Nur der vordere Gebäudeteil sollte abgerissen werden, Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler versprach 100.000 Euro Förderung. Durch den Brand hat sich das erledigt. Der AUGUSTIN wollte vom Büro Hebein wissen, welche Strategie es für nicht-kommerzielle, über Zwischennutzung hinausgehende Nachbarschaftsprojekte bei der Stadt Wien gibt. Eine Antwort war bis Redaktionsschluss ausständig.