Was haben Armut und Beschämung mit Gesundheit zu tun?tun & lassen

Eine Watsche von der Lehrerin, ein unangenehmer Kommentar in der Arztpraxis. In W.s Leben war die Beschämung ständiger Begleiter. Allein, für schöne Brillen und feine Hobbys fehlt das Geld. Wie sich das anfühlt und was W. sich für sein Leben wünscht, hat er Vera Hinterdorfer und Alban Knecht erzählt.

Illustration: Seda Demiriz

Ich bin zurzeit noch 20 Stunden angestellt, aber schon länger im Krankenstand. Früher habe ich Vollzeit gearbeitet, aber dann bin ich in Depression verfallen. Seitdem plage ich mich damit herum, wieder normal zu werden. Aber das wird sich nicht mehr ausgehen, weil ich schon so alt bin. Ich bin 50 und werde wahrscheinlich mit dem Alter immer ärmer und mich mehr und mehr zurückziehen. Mir fehlt das Geld, um zum Beispiel Sport und was Künstlerisches zu machen oder irgendwelche Hobbies anzufangen. Dazu braucht man Geld. Also ziehe ich mich zurück. Ich hab mich auch schon früher schwer getan, Leute kennen zu lernen.

Ein Brief an Kreisky.

Ich hatte schon als Kind eine Augenkrankheit und konnte schlecht sehen. Deshalb haben sie mich Brillenschlange genannt. Sogar die Lehrerin hat das so gesagt. Einmal sollte ich was zeichnen, aber ich habe nicht gleich verstanden, was ich genau tun sollte, eben weil ich nicht richtig sehen konnte. Das war in der zweiten Klasse der Volksschule. Da hat mir die Lehrerin eine aufgelegt und es selbst gezeichnet. Ab Ende der zweiten Klasse hieß es: «Du sollst mal gescheit lesen lernen» – und erst da habe ich eine Brille bekommen. Heute bekommen das dreijährige Kinder, aber damals war das nicht so. Ich bekam ganz dicke Gläser. Ich hatte schon früher keine Freunde, auch in der Schule nicht. Ich weiß nicht, warum.

Als ich eine Lehrstelle gesucht habe, konnte ich erst nichts finden. Der Berufsberater sagte: «Solange du arbeitslos bist, bleibst du daheim, bis du was findest.» Das wollte ich nicht. Also habe ich Kreisky geschrieben und mich beschwert, dass der Berufsberater nichts tut. Plötzlich kam was von Wien. Der Berufsberater kam sogar zu mir nach Hause. Er sagte, du kannst nach Wien gehen und dir wird die Unterkunft bezahlt. Das hat gepasst, ich wollte eh von da weg, wo ich herkomme. In Wien war mir die Arbeit am wichtigsten. In der Früh um sieben bin ich lachend in die Arbeit gegangen. Und am Abend um fünf wusste ich nicht mehr, was ich tun sollte. Ich wäre am liebsten Tag und Nacht in der Firma gewesen.

Urlaub statt Krankenstand.

Als ich Jahre später meine Arbeit verloren habe, begann die Depression, und ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Ich habe dann eine Art Arbeitstraining gemacht und auch wieder gearbeitet. Vor zwei Jahren fiel ich wieder in die Depression. Jetzt bin ich seit einem halben Jahr im Krankenstand und nur zu Hause. In der Nacht kann ich nicht schlafen, weil mir die Wohnung zu eng wird, also sehe ich fern. Wenn es hell ist, schlafe ich dann. Mit 700 Euro Krankengeld kann man auch nicht viel machen. Wo soll ich damit hingehen? Ich hätte Mindestsicherungs-Aufstockung beantragen können, aber das wusste ich nicht.

Ich wurde auch krank, konnte nichts hören, hatte Schwindelanfälle, dauernd Tinnitus. Das kann man nicht heilen. Manchmal falle ich plötzlich hin. Die Schwindelanfälle dauern manchmal ein paar Stunden oder einen Tag. Früher habe ich statt Krankenstand meine Urlaubstage verwendet, wenn das passiert ist, damit sich der Chef nicht aufregt.

Diskriminiert fühle ich mich wegen meiner Krankheit und meiner Lebenssituation vor allem beim Einkaufen. Es ist alles so klein geschrieben, dass ich ganz nah zu den Preisschildern hingehen muss, um sie lesen zu können. Ich wusste schon früher beim Einkaufen nicht, wie viel was kostet, und habe es immer erst an der Kassa erfahren. Manchmal fragt jemand: «Du hast eine Brille und siehst trotzdem nichts?» Das hat mich schon immer aufgeregt: Nur weil ich eine Brille habe, soll das die verringerte Sehkraft um 100 Prozent ausgleichen? Das geht nicht – ich sehe nur mit einem Auge.

Notgedrungen lachen.

Auf den Ämtern haben sie mich eigentlich immer gut behandelt. Auch über meinen Hausarzt kann ich nichts Schlechtes sagen. Als ich arbeitslos war, hat mich beim Arztbesuch immer gestört, wenn die Ordinationsgehilfin gefragt hat: «Sind sie noch arbeitslos?» Das war mir schon sehr unangenehm. Das kann man auch leise fragen, wenn da noch andere Leute stehen und das hören.

Bei der Krankenkasse dauern manche Vorgänge bei mir länger als normal. Und ich glaube, wenn ich mehr Geld hätte, hätte ich eine bessere Behandlung für meine Augen und auch wegen der Hörprobleme: Es gibt in Deutschland einen Professor, der da weiterhelfen könnte, aber das zahlen sie mir nicht.

Eine schöne Brille habe ich auch nicht. Normalerweise kann man bei meinem Problem Gleitsichtgläser verwenden. Ich hab das einmal ausprobiert. Auf der Straße bin ich gegen jede Laterne und jedes Straßenzeichen gelaufen, mir tat schon die Schulter weh. Dann habe ich es gelassen. Bifokal ist besser bei mir, aber das schaut halt blöd aus. Ohne Brillen geht’s sowieso nicht, dann sehe ich gar nichts.

Manchmal, wenn ich Kabarettisten im Fernsehen sehe, denke ich, das könnte ich auch, so lustige Geschichten erzählen. Wie ich FKK war, hole aus dem Kofferraum ein T-Shirt und werfe ihn zu, während der Schlüssel drinnen war. Dann musste ich unten blank den ÖAMTC anrufen. Oder ich parke mein Auto im Parkhaus und finde es nicht mehr. Ich kann über mich selbst lachen, vielleicht notgedrungen.

Ich will mich besser fühlen.

Viele sagen zu mir, geh hinaus in ein Café oder so. Aber am Sonntag und alleine will ich das gar nicht. Alle sind zu zweit oder mit mehreren unterwegs, und ich sitze alleine da. Da komme ich mir minderwertig vor und bleibe lieber zu Hause.

Jetzt bin ich noch bei einer sozialen Organisation aktiv. Ein paar Leute haben sich zusammengefunden, und da alle arbeitslos sind, haben wir einen Verein gegründet, da bin ich Obmann. Die Gewerkschaft wollte uns damals nicht, deshalb haben wir uns selbst gegründet. Mit denen bin ich befreundet, aber mehr tu ich mit ihnen auch nicht.

Zu meinem Geburtstag, dem 50., bin ich in der Psychiatrie gelandet. Ich dachte nie, dass ich 50 werde, und dann dachte ich, jetzt bist du 50 und hast nichts erreicht. Wenn ich an Schulkameraden denke – der eine ist Chef bei einer Börse, der andere hat ein Haus, ich habe nichts. Deswegen dachte ich immer, wenn ich 50 werde, dann geh ich. Und deshalb habe ich meinen 50. Geburtstag dann im Otto-Wagner-Spital verbracht.

Was ich noch erreichen will im Leben? Ich will zwei oder drei Mal auf Urlaub fahren, einmal nach Frankreich, einmal nach Brasilien, aber das wird teuer. Ich spiele eh Lotto. Sonstige Ziele? Ich will mich besser fühlen, auch gesundheitlich. Und dass es jemanden gibt, den ich anrufen kann und sagen kann: «Du, machen wir was?»

 

Gesundheitsförderung zwischen Wertschätzung und Beschämung – ein Projekt der Armutskonferenz

Armut und fehlende Gesundheitsversorgung sind eng miteinander verknüpft. Und das liegt nicht immer daran, dass jemand unzureichend versichert ist oder Gesundheitsleistungen Geld kosten, sondern auch am Umgang mit Armutsbetroffenen. Abwertung und fehlende Anerkennung gehören für viele Menschen zum Alltag – auch im Gesundheitssystem, in der Kommunikation mit Ämtern oder medizinischem Personal. Abwertung schwächt und macht psychisch krank, und sie führt auch dazu, dass Angebote des Gesundheitswesens weniger genutzt werden. Wer will beim Arztbesuch schon komisch angeschaut oder abwertend kommentiert werden?

In dem Projekt Gesundheitsförderung zwischen Wertschätzung und Beschämung – GWB. Gesundheitliche Belastungen von Armutsbetroffenen durch Abwertung und vorenthaltene Anerkennung vermeiden (gefördert durch den Fonds Gesundes Österreich) erarbeitet die Armutskonferenz Strategien gegen Beschämung und ihre gesundheitlichen Folgen. In diesem Rahmen ist auch das hier publizierte Gesprächs­protokoll mit W. entstanden.

Weitere Gesprächsprotokolle am Blog der Armutskonferenz:

www.armutskonferenz.at/blog/blog-2019.html

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