Max Mannheimer malt gegen die eingebrannten Bilder an
Der KZ-Überlebende Max Mannheimer malt abstrakt und nach Kandinsky. Er verwendet ungewöhnliche Materialien wie Harz oder Glas. 1980 versuchte er, ein kleines Hakenkreuz auf einem Betonpfeiler auszukratzen und fiel in Ohnmacht. «Mein Unterbewusstes hat mir einen Streich gespielt», sagt der 95-jährige Präsident der Lagergemeinschaft Dachau heute.
Kerstin Kellermann (Text) und Heiko Kilian Kupries (Fotos) haben ihn in seinem Zuhause unweit von München besucht.Max Mannheimer sitzt in seinem kleinen Atriumhaus, die Sonne scheint herein, schwarze Vögel kleben an den Glastüren zum Innenhof. Hundebesitzerinnen zeigten uns den Weg in die Reihenhaus-Siedlung aus den 70er-Jahren. Mannheimers polnische Haushaltshilfe kleidete ihn in einen schönen Anzug, und der Überlebende von drei Konzentrationslagern scherzt herum: «Ich war einmal Journalist, aber neugierig war ich auch schon, bevor ich Journalist geworden bin. Mich interessieren Menschen. Obwohl sie sehr Schlimmes gemacht haben, sind sie doch das interessanteste Studienobjekt.» Seine Neugierde und Gelassenheit, seine Liebe zu den Menschen brachten ihn wohl auch zu seinem hohen Alter von 95 Jahren. Trotz seiner schrecklichen Geschichte.
In zwei großen Schockwellen kehrten die Geister aus Theresienstadt, Auschwitz, Warschau und Dachau wieder, ansonsten kamen die Depressionen in Schüben. «Ihr Buch ‹Spätes Tagebuch› ist so voll von Details. Wie konnten Sie sich so gut an alles erinnern?», frage ich. «Es ist ja so, dass ich das Buch relativ früh geschrieben habe. 1964 ist meine zweite Frau Fritzi, eine sozialdemokratische Stadträtin, an Krebs gestorben, und dann hatte ich eine Kieferoperation. Ich fragte den Assistenzarzt, wie es denn mit dem histologischen Befund sei. Das war bei den Barmherzigen Brüdern in München. Aber er vergaß dreimal, mir den Befund zu bringen. Ich ging davon aus, dass es sich um eine sogenannte barmherzige Lüge handelt, und dachte, ich habe auch Krebs. Deswegen dieses Staccato unter großer Anspannung in meinem Buch. Weil ich dachte, morgen muss ich sterben.» Mannheimer wollte seiner Tochter Eva die Aufzeichnungen hinterlassen. Eva, die wie ihr Vater gewöhnt war, nicht darüber zu reden, sagte auch später nichts zu den Erinnerungen ihres Vaters, die der Widerstandkämpfer Hermann Langbein im Archiv in Dachau deponierte. Außer, dass sie sie nicht in einem Zuge durchlesen könne.
«Viele KZ-Überlebende haben eine Art Blockade, sodass sie sich an bestimmte Sachen gar nicht erinnern. Ihr ‹Spätes Tagebuch› ist wie eine Brücke, es ist gerade das, was man noch aushalten kann als Leser. Sie blockieren nicht», sage ich. «Eben. Das ist das Erstaunliche. Trotz meines Alters habe ich ein Gedächtnis, das etwas außerhalb des Normalen ist» (lacht). «Haben Sie sich an Bilder erinnert? An Szenen?», frage ich. «Die ganze Sache ist ja so, dass das, was ich erlebt habe, dermaßen eingebrannt ist in mein Gedächtnis, dass es mich auch psychisch mitgenommen hat. Ein Überlebender sagte einmal zu mir, er war sehr jung, 14, 15, er hat keine Probleme mit seinen Erinnerungen.» «Das glaube ich nicht. Hat er Krankheiten?» «Auf jeden Fall freut es mich, wenn wer keine Probleme damit hat», sagt Mannheimer mit ironischem Unterton. «Kein Einziger von meinem Transport aus Ungarisch Brod lebt noch. Genau 1001 Menschen, von Theresienstadt aus nach Auschwitz, nur 154 Männer und 63 Frauen kamen ins Lager, die anderen wurden noch in derselben Nacht vergast.» In dieser Nacht verlor Max Mannheimer fünf seiner nächsten Verwandten und seine junge Ehefrau. «Damals gab es die Vergasungen noch in zwei Bauernhäusern, weiß und rot getüncht. Das Weißgetünchte habe ich gesehen, wir sind Birkenholz sammeln gegangen, in dem Moment waren aber keine Aktionen. Die zwei Pferdeställe daneben dienten als Auskleidebaracken, aber das wusste ich damals nicht.»
Umkehrschub in Amerika
«In Frankfurt konnte ich nur im Kino die Vergangenheit in den Hintergrund drängen. Dann war es mir zu blöd, und ich habe Leinwand gekauft.» Das war schon in den 50er-Jahren. Die Konzentration auf Bilder machte den Unruhigen geduldig. Nach einem Besuch einer Kandinsky-Ausstellung im Münchner Lenbachhaus entdeckte er die abstrakte Malerei für sich; und wirklich ähneln seine ganz neuen Filzstift-Schachbrettbilder solchen von Kandinsky. «Diese Explosion in Amerika, dieser Umkehrschub – nach vorne, nicht nach hinten …», beginnt Max Mannheimer zu erzählen und atmet tief. 1981 entdeckte er beim Besuch auf einer amerikanischen Insel ein kleines Hakenkreuz in den Beton eingeritzt. Manisch versuchte er es mit einem Schraubenzieher aus dem Mauerpfeiler auszukratzen, wurde ohnmächtig und fand sich auf der Psychiatrie wieder. «Kurz zuvor hatte uns unser Feund Josef Brammer aus Ungarisch Brod in München besucht, der seinerzeit meinem kranken Bruder Ernst in Auschwitz seine warme Jacke überlassen hatte – wenig später war Ernst das Opfer einer Selektion geworden.»
Das unterdrückte Verdrängte drängte herauf. «Mein Unterbewusstes hat mir einen Streich gespielt», sagt er heute. «Ich wollte immer nur reden, außer einmal, als ich in den Zaun gehen wollte.» Er hatte nie Rachegedanken oder Wutanfälle, aber immer innere Unruhe und Alpträume. Als Maler signiert er mit «ben jakov», das bedeutet Sohn des Jakob, nach seinem Vater, sein jüdischer Name ist eigentlich Moses. Die späteren, freudig bunten Leuchtspuren auf den Bildern erinnern sicher auch an die Liebe und Unterstützung seines jüngeren Bruders Edi, der ihm half, die Konzentrationslager zu überstehen, und Max ein paarmal das Leben rettete. Die Brüder blieben zusammen. Nur so konnte er es schaffen, weiß er später. Kometenartige Liebes-Leuchtspuren?
Reise in die Sonne
Heute sitzt Mannheimer am Tisch im Wohnzimmer und malt mit Filzstift, Kücheninstrumenten und Kuchenspachteln. Seine experimentellen Bilder sind voll archaischer Symbole. «C. G. Jung, ein Zeitgenosse von Freud, meinte, Hauptsache, dass der Mensch in Bewegung kommt. Jung ließ seine Patienten malen und war sich sicher, dass jeder eine Verbindung zum kollektiven Unterbewusstsein hat», schlage ich vor. Mannheimer: «Ja, auf alle Fälle! Nur merkt man das nicht. Sehr viel kommt von innen, ohne dass man es definieren kann. Anfangs waren meine Bilder sehr schwarz. In der Ausstellung in Dachau brachte ich eine schwarze Sonne. Dann schrieb eine Journalistin von der Süddeutschen Zeitung, die schwarze Sonne erinnert an mein Schicksal, die dunkle Zeit, eine ganz gute Interpretation – ich wäre nie draufgekommen (lacht). Der Mittelpunkt mancher Bilder war eben oft etwas Rundes, etwas, das sich abgesetzt hat von den anderen Farben». «Jung meinte, das kollektive Unterbewusstsein, das jeder Mensch in sich trägt, zeige sich in den Zeichnungen in archaischen Symbolen wie Sonne, Stern, Fische, Augen. Die Bedeutung, die der Patient mit dem gezeichneten Symbol verbindet, ist ganz wichtig.» Mannheimer springt auf und läuft ohne Rollstuhl davon: «Jetzt zeige ich Ihnen eine Synagoge, die genauso gut eine Kirche oder eine Moschee sein kann. Das gleiche Gebäude. In dem könnten alle beten. Oben ist der ‹Magen David› (hebr. für «Schild Davids», Anm.). Die Karmeliterschwester Elija, die sich um mich und meine Bilder kümmert, hat das zusammengeschnitten, sie ist eine Künstlerin (lacht). Das habe ich vielleicht vor einem Jahr gemacht.» Als wir ihn verlassen müssen, blickt er uns freundlich nach. «Schicken Sie mir dann den Augustin. Wenn ich inzwischen auf die Reise gegangen bin, werden Sie ja davon erfahren.»
Max Mannheimer: Spätes Tagebuch. Theresienstadt – Auschwitz – Warschau – Dachau. Piper 2000