Was treibt die Roma auf die Straßen Wiens?tun & lassen

Wenn die Massenmedien in Österreich zum journalistischen Brauch übergingen, Hintergrundinformationen zu laufenden Aufreger-Themen zu liefern, z. B. zur Debatte um die Kinder der BettlerInnen, würde die Neuauflage des verwurzelten Antiziganismus (Zigeunerhass) auf Schwierigkeiten stoßen: auf eine aufgeklärte Öffentlichkeit. Diese würde auch durchschauen, dass wer von Bettlermafia oder Kindermissbrauchern redet, die Roma meint.Die Länder, aus denen die bettelnden Roma kommen, bieten dieser Bevölkerungsgruppe wenig Perspektiven: In Serbien ist die Arbeitslosenrate bei den 300.000 Roma dreimal höher als bei den anderen Gruppen. In Rumänien haben 75 Prozent der 2 Millionen Roma im arbeitsfähigen Alter keine feste Beschäftigung. In Ungarn ist die Hälfte der 600.000 bis 800.000 Roma arbeitslos, während in der Gesamtbevölkerung die Arbeitslosigkeit bei 7 Prozent liegt.

Der bulgarische Wirtschaftsboom hat die Arbeitslosenrate auf 7 Prozent sinken lassen. Der Boom geht an den 400.000 bis 800.000 Roma in Bulgarien total vorbei. Bei ihnen liegt die Arbeitslosenrate bei 90 Prozent.

In Bulgarien explodiert die Nachfrage nach Arbeitskräften. Fast alle Roma suchen Arbeit. Bulgarien hat aber begonnen, zur Konsolidierung des Wirtschaftswachstums ausländische Arbeiter zu importieren. Roma werden vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen.

Der bulgarische Historiker Setschkow: Mittlerweile ist unter den Roma eine ganze Generation herangewachsen, die noch nie erlebt hat, dass ihre Eltern morgens aufstehen und zur Arbeit gehen.

Kein Fehler der bulgarischen Regierungspolitiken hat für die Roma so katastrophale Folgen wie die faktische Apartheidspolitik im Bereich der Schulbildung. Jeder 5. Roma über zwanzig ist Analphabet. Obwohl dieser Anteil weiter steigt, sieht das Erziehungsministerium keine Gegenmaßnahmen vor.

Die 240 Millionen Euro an EU-Geldern, die in den letzten zehn Jahren in Roma-Integrationsprogramme Osteuropas flossen, bedeuten für jeden Angehörigen des Volks der Roma etwa 3 Euro pro Jahr. Im Vergleich: Für jede Kuh hat die EU pro Jahr Subventionen in Höhe von 32 bis 35 Euro ausbezahlt.

58 Prozent aller bulgarischen Roma-Haushalte bezogen im Jahre 2006 Sozialhilfe. Das soll sich nun ändern. Seit dem 1. Jänner 2008 gibt es in Bulgarien eine neue Regelung: Der Zeitraum für den Bezug der staatlichen Unterstützung ist nun auf 18 Monate begrenzt. Noch mehr Grund dann, nach Wien zu fahren …

Mehr als die Hälfte der bulgarischen Roma wohnen in den mahali, den überfüllten und infrastrukturarmen Ghettos am Rande der Großstädte. Die größten sind der Stadtteil Faculteta in Sofia mit 45.000 Einwohnern und der Stadtteil Stoliponowo in Plovdiv mit 35.000 Einwohnern. Drei von vier Bewohnern, die hier geboren sind, werden ihre Mahala nie verlassen. In der Hauptstadt Sofia sind die Roma mittlerweile fast die einzigen Arbeitslosen.

Es gibt auch hoffnungsvollere Nachrichten. Das serbische Ausbildungsprogramm für Roma-Kinder zeitigte erste Erfolge: Die Zahl der Roma-Hauptschüler hat sich in den letzten Jahren vervierfacht. Und Rumänien betreibt seit 1993 ein Förderprogramm, das dazu führte, dass im Studienjahr 2005/06 mehr als 400 Roma an Universitäten eingeschrieben wurden.

Quelle: Nikoleta Popkostadinova, Sofia, kürzlich mit einem balkanweit ausgeschriebenen Journalistenpreis ausgezeichnet. Ihr Text erschien in Le Monde diplomatique.

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