«Was tut ihr?»vorstadt

Analoge Rollenspiele können sich auch im digitalen Zeitalter in einer Nische behaupten. Ein Besuch beim einschlägigen Verein Athenaes
Siegel in Ottakring.

TEXT: MARKUS SCHAUTA
FOTOS: ALEXANDER GOTTER

Alles ganz easy, dachten wir uns, als wir vom alten Turm im Wald erfuhren. Die morsche Tür aufbrechen, das Gemäuer Stockwerk für Stockwerk durchsuchen, die Schätze einsammeln und bevor die Sonne untergeht, verprassen wir das Gold im Wirtshaus zum Keiler. Doch es kam anders. Die Tür war durch eine Falle gesichert, die Fips, den Dieb, zwei Finger kostete. Der Turm ist außerdem nicht verlassen. Reginald, der Kleriker, sagt, dass etwas Böses zwischen den alten Mauern lauert. Und während Fips durch den Verband blutet, hören wir schlurfende Schritte und feuchten Atem, die langsam näher kommen.

So oder ähnlich könnte eine Szene in einem Rollenspiel aussehen. In Gestalt fiktiver Figuren, der sogenannten Charaktere, stellen sich die Spieler_innen Herausforderungen, die sie gemeinsam zu lösen versuchen. Das Besondere daran: Beim Rollenspiel gibt es zwar Regelwerke, aber weder Spielbrett noch Spielsteine. In der Kommunikation der Spieler_innen miteinander entwickelt sich das Spiel als kollektives Erzählen.

Totgesagte leben länger.

Das erste Rollenspiel kam 1974 unter dem Namen Dungeons & Dragons (D&D) in den USA auf den Markt. D&D spielt in einer fantastischen Welt, inspiriert von Robert E. Howard, J. R. R. Tolkien, Jack Vance und anderen Autor_innen der Fantasyliteratur. Als Erfinder werden Gary Gygax und Dave Arneson genannt. D&D galt zunächst als Nerd-Phänomen von und für Collegestudent_innen. Doch das änderte sich rasch. Im September 1980 beschrieb ein Forbes-Artikel D&D als das «heißeste Spiel der Nation» und sagte ein explosives Wachstum voraus. 1981 lag der Verkaufserlös bei 12,9 Millionen US-Dollar. Doch seitdem hat sich am Spielemarkt viel verändert. Ende der 80er-Jahre setzte der Boom der Videospiele ein, aus dem sich ein Milliardenmarkt entwickelte, der zu einer Konkurrenz für die klassischen, analogen Spiele wurde.
Harald Hinterbuchinger führt ein Fachgeschäft für fantastische Spiele im 6. Bezirk. Dem Rollenspiel sei bereits vorhergesagt worden, dass es aussterben werde, so Hinterbuchinger. Doch es kam anders. «In den letzten zwanzig Jahren ist das Rollenspiel salonfähig geworden.» In TV-Serien wie The Big Bang Theory spielen die Protagonist_innen D&D, was das Interesse an dem Spiel erneut geweckt habe: «Es gibt jetzt mehr junge Spieler als jemals zuvor – die Zukunft des Rollenspiels ist gesichert.» Das liege auch an den grenzenlosen Möglichkeiten, die das analoge Rollenspiel biete. «Im nicht-digitalen Bereich bist du viel flexibler und freier in dem, was du erzählen kannst. Im Digitalen gibt es immer irgendwo eine Grenze.» Schätzungen des Verlegers Wizards of the Coast zufolge haben im Jahr 2017 zwölf bis 15 Millionen Menschen in den USA D&D gespielt.

Vom Dungeon ins Weltall.

Doch auch wenn D&D nach wie vor den Markt dominiert, gibt es eine Vielzahl weiterer Systeme. Bereits 1977 erschien mit Traveller ein Science-Fiction-Rollenspiel, bei dem die Spieler_innen mit ihren Charakteren das Weltall erkunden können. 1984 kam das deutsche Rollenspiel Das Schwarze Auge auf den Markt. Es spielt in einer vom Mittelalter und der frühen Neuzeit inspirierten Welt, bevölkert von Fabelwesen. 1989 erschien das in der nahen Zukunft angesiedelte Shadowrun, darin sind High Tech, Magie und Fantasyfiguren zu einem dystopischen Cyberpunk-Szenario kombiniert. Insgesamt gibt es heute dutzende Spielsysteme, die alle erdenklichen Genres von der klassischen Fantasy über Science-Fiction bis Horror bedienen.
Die Bibliothek des Rollenspielvereins Athenaes Siegel beinhaltet alle der oben genannten Rollenspiele und noch mehr. Die knapp 40 Mitglieder des Vereins treffen sich mehrmals die Woche in den Räumlichkeiten im 16. Bezirk, wo an sechs Tischen parallel gespielt werden kann. Den Verein gibt es seit 1985. «Das jüngste Mitglied ist 16 Jahre alt, das älteste über 80», so Jan Kaltenecker, Schriftführer im Verein. Die Mitglieder sind mehrheitlich Männer, doch der Frauenanteil in diesem Hobby sei in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen.
Werner Farkas hat 1992 mit dem Rollenspielen begonnen, seit 1995 ist er im Verein. Werner ist meistens Spielleiter und beherrscht mehr als zehn verschiedene Regelwerke. Aufgabe des Spielleiters ist es, die Umgebung und die Reaktion der Umwelt auf Aktionen der Spieler_innen zu beschreiben. Er kann dabei auf vorgefertigte Abenteuer zurückgreifen, oder sich selbst eines ausdenken. In jedem Fall muss er spontan auf die Einfälle der Spieler_innen reagieren können. Denn gerade das macht den Reiz des Spieles aus: Es gibt keinen vorgegebenen Weg, die Aufgabe zu lösen, und oft kommen die Spieler_innen auf Ideen, die für die Spielleitung nicht vorhersehbar waren. Dann heißt es improvisieren.
Kommen wir auf die eingangs beschriebene Szene zurück: Die Charaktere der drei Spieler – Krieger, Dieb und Kleriker – sind in den Turm eingedrungen. Jetzt bemerken sie, dass sich ihnen etwas nähert. «Was tut ihr?», lautet die klassische Frage des Spielleiters, mit der er die Spieler_innen zum Handeln aufruft. Sie könnten versuchen, die Tür zu blockieren. «Gibt es schwere Möbel im Raum?», fragt Spielerin A, woraufhin der Spielleiter die Einrichtung beschreibt, darunter einen Kasten. Die Spieler_innen beschreiben nun, wie sie den Kasten vor die Tür schieben. Sie könnten auch die Entscheidung treffen, sich dem Unbekannten zu stellen. In diesem Fall würde es zu einem Kampf kommen. Oder sie beschließen zu fliehen und wollen sich mit Hilfe eines Seils aus dem Turmfenster abseilen.
Jedes Mal, wenn der Ausgang einer Aktion ungewiss ist, entscheidet ein Würfelwurf. Abhängig von den Fähigkeiten des Charakters muss ein bestimmter Wert über- oder unterwürfelt werden. Trifft der Schwertstreich des Kriegers das Monster oder geht er ins Leere? Würfeln. Gelingt das Abseilen aus dem Turmfenster oder kommt es zu einem Unglück? Würfeln. Kann der schwere Kasten rasch genug vor die Tür geschoben werden? Würfeln.
Bei der Beschreibung der Umgebung schlüpft der Spielleiter in die Rolle aller Gegner_innen und Freund_innen, die die Spieler_innen im Abenteuer treffen. «Damit die Spieler die Figuren besser unterscheiden können, hilft es, sie mit unterschiedlichen Stimmen darzustellen», so Farkas, der für diesen Zweck fünf Stimmen einstudiert hat.
Und wer gewinnt am Ende? Ein_e Spieler_in kann durch ungeschicktes Handeln oder Würfelpech seinen/ihren Charakter verlieren. Das sei ein bisschen so, wie wenn die Lieblingsmannschaft beim Fußball verliert, so Farkas. Darüber hinaus gibt es keine Gewinner_innen im klassischen Sinn. Die Spieler_innen agieren nicht gegeneinander, sondern versuchen als Team, die gestellte Aufgabe zu lösen. Als Belohnung verbessern sich die Fähigkeiten der Charaktere, so dass sich diese im Laufe der Zeit größeren Herausforderungen stellen können.

«Es macht einfach Spaß.»

Von den Rollenspielen, die Harald Hinterbuchinger in seinem Fachgeschäft im Angebot hat, sind Fantasy-Settings am beliebtesten, angeführt von der aktuell fünften Version von D&D.
Das Rollenspiel hat sich in den vergangenen 45 Jahren ständig verändert und weiterentwickelt. Bei den Regelwerken beobachtet Hinterbuchinger eine Trend zur Vereinfachung. «Möglichst wenige und rasch erlernbare Regeln mit viel Raum fürs Geschichtenerzählen.» Auch von gesellschaftlichen Themen blieb das Rollenspiel nicht unberührt. Gender- und Rassismusdebatten werden in der Rollenspiel-Szene ebenso geführt wie jene über die fortschreitende Umweltzerstörung.
Was in all den Jahren geblieben ist, ist die Idee des Abenteuers im Kopf, der schier endlosen Möglichkeiten, die sich in der Kommunikation zwischen Spieler_innen und Spielleitung ergeben.