Was wurde eigentlich aus … dem Löwenbaby?tun & lassen

Sachbuch: der Zoo, der Mensch, die Nazis und der Kolonialismus

Im Auto war es meistens zu heiß. Die Wege staubig, die Eltern im besten Fall gelangweilt, hoffentlich sehen wir einen Tiger!, eine Giraffe!, aber meistens sprangen nur ein paar kleine Affen ins Blickfeld. Am Ende gab es Eiscrème und zu irgendeinem besonderen Anlass: das Löwenbabyfoto.
Kurz vor und kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sind die Bilder im Safaripark Gänserndorf aufgenommen, die einmal die Autorin des Buches mit ihrem Vater, einmal die Autorin der Buchbesprechung mit ihren Schwestern zeigen: ein Baumstamm als Bank, ein Löwenbaby am Schoß, eine blaue Lagune im Rücken – «eine groteske Kulisse, wenn man bedenkt, dass karibische Palmenstrände weder auf das natürliche Habitat des durchschnittlichen ostösterreichischen Tagesausflüglers noch auf das des Löwen verweisen». Eröffnet war der Safaripark 1972 worden, und zwar von Verteidigungsminister Lütgendorf. Wenig überraschend, würde die Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Christina Wessely sagen, die in ihrem Buch Löwenbaby nicht bei der Beschreibung von 80er-Jahre-Familienkitsch stehenbleibt, sondern das tausendfach geschossene Löwenbabyfoto als Teil einer kulturellen Erzählung analysiert, die sehr viel mit Landesverteidigung zu tun hat. Sie begibt sich auf eine Spurensuche, die bei Berliner Zoofotograf_innen beginnt und über SA-Mann, Nachkriegs-Zoodirektor und Kolonialfantaseur Bernhard Grzimek zu Hermann Görings hauseigenen Löwenbabys führt: «Das lässige Streicheln über Kinderhaar und Tierfell heißt: diese Hand hier kann vernichten.» Deutschland und Österreich haben – auf jeweils spezifische Weise – die Tiere und den Zoo zur «Wiedergutwerdung» gebraucht. Die «meist deprimierende Kulisse» der Safariparks diente nicht nur dem Trost imperialer und kolonialer Enttäuschungen, sondern auch einer neuen Erzählung: Der Mensch, der deutsche, der österreichische, ist kein schießender Tierfeind, sondern ein fotografierender Tierfreund. Ein «moralisch einwandfreier Träger eines sorgsam kultivierten ökologischen Bewusstseins».
In ihrem Büchlein von 70 Seiten schafft Wessely einen Rundumschlag – ernst gemeint, aber sehr gewitzt –, der beim harmlosen Familienausflug beginnt und im Analysefeuerwerk einer ganzen Nachkriegsgesellschaft explodiert.

Christina Wessely: Löwenbaby
Matthes & Seitz 2019, 72 Seiten, 10,30 Euro

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