Wasser, Holz und Mistviechervorstadt

Mit dem Faltrad entlang des Eisernen Vorhangs (letzter Teil)

Der Eiserne Vorhang trennte bis 1989 Europa in eine Ost- und eine West-Hälfte. Mario Lang (Text und Fotos) startet seine Schluss-Etappe entlang dieser ehemaligen Trennlinie. Von der Barentssee führt ihn der Iron Curtain Trail bis ins russische

St. Petersburg.Auszüge aus dem Reiseblog:

1. Tag: Montag, 18. Juni

Die Tragödie Anreisetag ist in vollem Gange, obwohl alles sehr gediegen begonnen hat. Mein jugendlicher Reisebegleiter «Konsti» besitzt den Zugangscode zur «Sky-Lounge» – da war die Welt noch in Ordnung. Die weiteren Stationen: Flugvogel – Oslo – Räder neu einchecken – noch einmal die Sicherheitsprozedur – warten – weiter warten – Flugvogel und endlich nach zwei weiteren elendslangen Flugstunden zeichnet sich Kirkenes unter uns ab. Inzwischen ist der Tag auch schon wieder zu Ende, allerdings bei Festbeleuchtung, in Norwegen geht um diese Jahreszeit die Sonne nicht unter. Wir gönnen uns Begrüßungsgetränke zu norwegischen Preisen: 2 Bier = 18 Euro!

2. Tag: Dienstag, 19. Juni (Norwegen)

Bis zum Kilometer null in Grense Jakobselv sind es sehr hügelige 60 Kilometer. Eine einsame Straße windet sich vorbei an Seen, Fjorden, Buschwäldern und kargen Bergen. Immer noch verstecken sich Schneereste in Schattenplatzerln. Nahe der russischen Grenze, an einem See, wird das Kochgeschirr ausgepackt. Die Liebste, also meine Liebste/Konstis Mutter, hat es sehr gut mit uns gemeint, ein Sack an Fertiggerichten erschwert das Reisegepäck. Es gibt Nudeln mit Käsesauce, das Nudelwasser spendet der See.

Norwegen, flächenmäßig eines der größten Länder Europas, ist mit knapp über fünf Millionen Einwohner_innen nur sehr dünn besiedelt. Am nordöstlichsten Zipfel liegt Grense Jakobselv am Ende einer «Sackgasse»: Der Fluss Jakobselva mündet in die Barentssee, östlich breitet sich Russland aus – ein Dorf am Ende der Welt. Eines ohne Gastwirtschaft, ohne Einkaufsmöglichkeit, dafür mit Mitternachtssonne.

4. Tag: Donnerstag, 21. Juni (Finnland)

Meist schnurgerade drängt das Asphaltband durch eine sich wiederholende Landschaft: Bäume, Wasser, Bäume, Wasser, und das auf beiden Seiten. Auf der Straße keine Menschen, keine Orte, nur Rentiere lassen sich ab und zu blicken. Die 24-Stunden-Dauerbeleuchtung hat auch Vorteile, es gibt keinen Zeitstress bei der Schlafplatzsuche. Diesmal stehen unsere mobilen Häuser auf einem Hang über dem Inari-See. Alle 3000 Inseln des sechstgrößten Binnensees Europas lassen sich von unserem Hochsitz aus nicht überblicken, das Bild ist dennoch beeindruckend! Das Paradies hat nur einen Haken: tausend Gelsen, eine Wolke aus Durst!

6. Tag: Samstag, 23. Juni (Finnland)

Bei Lappland drängt sich unweigerlich der unvergessliche Helmut Qualtinger auf: «Die Lappen? Gscherte im Pelz!» Heute politisch unkorrekt, damals ein Gustostückerl aus den Travnicek-Dialogen gemeinsam mit Gerhard Bronner (Lappen veraltet für Samen, die letzte indigene Bevölkerung in der EU). In Inari, dem Zentrum der finnischen Sámi-Region, beziehen wir zum ersten Mal ein Häuschen auf einem Campingplatz – Holzbauweise, Stockbett, Kochnische, alles sehr rustikal. Die Aufregung des Tages: Alarm! Der arme Konsti wachelt mit dem Polster wie ein Irrer. Der Feuermelder hat sich aktiviert. Schuld daran die Rentierwürste in der Pfanne. Viel Lärm um nichts, die Würste waren hervorragend!

9. Tag: Dienstag, 26. Juni (Finnland)

Auf einer einsamen Straße durch den Pyhä-Luosto-Nationalpark. Die beiden Berge (Fjells) von Luosto und Pyhä bilden zusammen eine 35 Kilometer lange Bergkette. Bergkette im finnischen Ausmaß, der höchste Fjell misst knapp über 500 Meter. Bei so viel Ruhe bleibt beim Treten viel Zeit zum Grübeln über die großen Dinge des Seins: «Wie geht Leben richtig?» «Warum beißen die Fische nur an fremden Schnüren?» «Was machen Finn_innen in dieser Einöde außer essen, hmmhmm und schlafen?»

10. Tag: Mittwoch, 27. Juni (Finnland)

Eine Spazierfahrt sollte es werden, mit abendlichen Ausschweifungen in Salla. Es kommt anders. Kurz nach Savukoski geht Konstis hinterem Reifen die Luft aus. Vorbei mit Rückenwind und Radler-Glück! Stattdessen eine längere Unterbrechung samt öligen Fingern. In der Provinz Salla wohnen nur 5000 Menschen, dafür 10.000 Rentiere. Am Ortseingang spielt ein Alleinunterhalter-Duo finnische Schlager, die Open-Air-Tribüne besetzt mit Frührentner_innen wippt im Takt. Die Sperrzeiten der Wintersportgemeinde sind sehr vergnügungsfeindlich: Um 20 Uhr ist der Ofen aus! Vor der bereits geschlossenen Pizzeria wird Supermarkt-Bier konsumiert, und die Schlafstadt wird heute am gepflegten Rasen des Kirchgartens aufgebaut. Vergelt’s Gott, Amen!

12. Tag: Freitag, 29. Juni (Finnland)

Eine weitere Gelsennacht liegt hinter uns. Und auch sonst, rundum lauert Gefahr, Tafeln warnen vor «Elchen», «Rentieren», «Schifahrer_innen» und vor «umfallenden Bäumen»!

Die Finn_innen sind im Allgemeinen nicht sehr kommunikativ, nicht unfreundlich, aber maulfaul, und wenn sie sich vertschüssen, tun sie das meist wortlos. Anders präsentiert sich die Lage, haben sie einen über den Durst getrunken, dann sind sie nicht abzuschütteln. Eine Ausnahme gibt es zur Nachmittagspause im wunderbaren Käylä mit einem Lokal an einem traumhaft schäumenden Fluss mit Seeanschluss. Die Wirtin plaudert wie ein Wasserfall, und das ohne Promille.

13. Tag: Samstag, 30. Juni (Finnland)

Der finnische Juni ist umgerechnet auf die mitteleuropäische Zeitrechnung ein waschechter April: Sonne, Wolken, Regen in Dauerrotation. Zur Wetterproblematik hinzu kommt die Problematik mit der Geografie, rauf und runter am laufenden Band. Trotz aller Widrigkeiten wird der Zeitplan überholt, was uns zu einer ausgedehnten Erfrischungspause in Suomussalmi samt Zerstreuung mit WM-Zirkus verleitet. Im benachbarten Russland messen sich gerade Frankreich und Argentinien. Messi fährt nach Hause, wir fahren weiter.

Im Spiel Regen gegen Sonne setzt sich die gelbe Kugel in der Verlängerung knapp durch. Die Zelte stehen heute nahe dem Winterkriegsmonument Offener Schoß unweit von Suomussalmi, welches an die Opfer des finnisch-sowjetischen Krieges von 1939 bis 1940 erinnert. Ein Fischplatzerl ist auch in der Nähe, und es steht zwei zu null für uns! Jeder einen! Letztlich reicht die Ausbeute gerade für einen Gabelbissen.

18. Tag: Donnerstag, 5. Juli (Finnland)

Der Ruhetag beginnt mit einem Sauna-Besuch, setzt sich fort mit einem «Lounas» (finnisches Mittagsbuffet) und gipfelt in einem Pub-Aufenthalt. Jetzt die traurige Nachricht, Konsti beschließt die Heimreise anzutreten: «Lieber Wiener Hitze als finnischer Regen! Lieber ein Quälgeist namens Ghost, der zwickt, als Millionen Quälgeister, die stechen!»

Konsti steigt in den Zug, ich aufs Brompton. Kurz nach Lieksa gibt es noch einen letzten Kaffee, danach folgen 70 Kilometer unter Dauerbewässerung bis zur ersten Jausenstation. Die Tragödie geht in die Verlängerung, auf den letzten 40 Kilometern gibt die Kettenschaltung den Geist auf, von sechs Gängen lassen sich nur noch drei einwandfrei schalten.

20. Tag: Samstag, 7. Juli (Finnland)

Die Rad-Störgeräusche werden immer aufdringlicher, leider liegen die Probleme außerhalb meiner Möglichkeiten, sowohl Schaltung als auch Vorderradlager. Kurz vor Kesälathi ist endgültig Schluss, das Kugellager bricht auf. Weiterfahren unmöglich. Das Glück ist ein Vogerl und setzt sich auf meine Schultern in Form einer Mitfahrgelegenheit. Der geschulte Blick des Fahrers erkennt sofort das Malheur – «Lagerie»! Die Lösung hat er auch gleich parat: ein Privathaus samt Heimwerker-König. Es wird geschraubt, auf Grund keiner gemeinsamen Sprache mit Händen und Füßen beratschlagt, nach allen Regeln der Kunst improvisiert, bis das Vorderrad wieder rundläuft. Es werden Hände geschüttelt, Komplimente getauscht und bei der Abfahrt wird heftig gewinkt!

23. Tag: Dienstag, 10. Juli (Finnland)

Helsinki hat 1917 Turku als Hauptstadt abgelöst, liegt im Süden des Landes an der Küste des Finnischen Meerbusens, hat weniger als eine Million Einwohner_innen und viel Wasser rundherum. Der City-Sightseeing-Bus wird eingespart und stattdessen die Route nachgeradelt. «Hop-on-Hop-off» mit dem Faltrad: «Laufen wie ein Nurmi» kommt von Paavo Nurmi, der finnischen Lauflegende. Auch der finnische Komponist Jean Sibelius wird mit einem Denkmal geehrt. Etwa sechs Prozent der Einwohner_innen von Helsinki sind schwedischsprachig, weswegen die Straßen in beiden Sprachen beschildert sind. Auch hier dreht sich ein Riesenrad. Und der unnötigste Hotspot ist die Bad-Bad-Boy-Skulptur, ein überdimensionaler glatzerter Bub, der in die Gegend «wiescherlt».

26. Tag: Freitag, 13. Juli (Russland)

Eine Nebenroute führt über Sowjetski und Selenogorsk Richtung St. Petersburg. Der Straßenbelag variiert von passabel bis kriminell. Die Disziplin der Mitbenutzer_innen ist sehr bescheiden. Ein erzwungener Ausritt in die Wiese ist unvermeidlich. In der Ortschaft Sowjetski scheint die Zeit vor 50 Jahren stehen geblieben zu sein: ein Supermarkt, blasse Wohncontainer, Straßenverkäuferinnen mit Eiern und Gartenprodukten im Angebot, Kinder kehren den Platz vor einem Kriegerdenkmal … ein Wohlfühlfaktor unter null. Die Bilder vom aufpolierten WM-Austragungsland und der Realität wollen nicht zusammenpassen.

27. Tag: Samstag, 14. Juli (Russland)

Ein Zieleinlauf zwischen Stoßverkehr und unterbrochenen Radwegen. Kein Finale für Lyriker, ein Endstück für Pragmatiker! In den Ballungszentren ist Russland voll in amerikanischer Hand. Von jeder Fassade lacht in grellen Farben und großen Lettern der Klassenfeind! Unterwegs begegnet mir Genosse Lenin am Straßenrand. Schlecht schaut er aus, als ob er fragen wollte: «Und, wie geht’s der Revolution?!» Die Antwort: «Das Smartphone regiert das Proletariat, Putin und Trump geben die bösen Clowns und McDonald’s beherrscht den Geschmack der Massen.»

In die Stadt geht es immer an der Newa entlang, bis zum Finnischen Bahnhof am Lenin-Platz. Ende der Reise! Der Iron Curtain Trail ist abgeradelt, über 10000 Kilometer, von der Barentssee bis zum Schwarzen Meer. Ein Stein fällt vom Herzen, aber das große Glücksgefühl lässt noch auf sich warten. Dann eben das Ziel-Foto!