Weg da! Ich komme!vorstadt

Ein amerikanisches Kulturgut macht sich bei uns breit: das Auto als Panzer

Immer größer, immer schwerer, immer schneller: Die Autos mutieren mehr und mehr zu tonnenschweren Kolossen. Und verbreiten solcherart nicht nur Angst und Schrecken auf unseren Straßen, sondern stellen auch eine veritable Gefahr für Leib und Leben dar. Das eigentlich Erstaunliche daran für Wenzel Müller (Text und Foto): Geradewegs schicksalsergeben scheinen wir dies einfach so hinzunehmen.

Die Amerikanisierung unserer Gesellschaft schreitet voran. Nicht zuletzt auf der Straße. Klimawandel hin, Verkehrskollaps her, Herr und Frau Österreicher_in setzen auf immer stärkere Autos. Im letzten Jahr lag die durchschnittliche Leistung der neu angeschafften Wagen bei 130 PS (96 kW), so hoch wie nie zuvor. Zum Vergleich: Die erste Version des Porsche 911, gebaut bis zum Jahr 1973, hatte auch 130 PS.
Stete Steigerungsraten verzeichnen insbesondere die tonnenschweren Geländewagen, zu denen auch die sogenannten SUVs zählen: Im letzten Jahr nahmen sie gegenüber dem Vorjahr um 19 Prozent zu – des größten Zuspruchs erfreuen sie sich in Wien, mithin dort, wo diese panzerartigen und für die Wildnis geschaffenen Wagen nun wirklich keinen Sinn machen. Denn hier, in der Großstadt, kommt man nur im Schritttempo voran, von einer Ampel zur anderen, wobei die meisten Kilometer auf der Suche nach einem Parkplatz zurückgelegt werden. Oder rüsten sich die SUV-Fahrer_innen bereits für den Ernstfall, für jenen Augenblick, da auf Wiens Straßen gar nichts mehr geht und alles stillsteht? Denn kurz Anlauf genommen, dürfte es mit diesen geländegängigen Fahrzeugen nicht schwer sein, über die anderen Fahrzeuge einfach hinwegzurollen. Am eigenen Auto wird das höchstens zu ein paar Kratzern führen, die anderen Fahrzeuge werden gnadenlos zermalmt werden. Selber schuld, was stehen sie einem auch im Weg!
Die PS-starken Ungeheuer – der Lack vorzugsweise schwarz, die Scheiben dunkel getönt – beherrschen schon seit längerem das Straßenbild in den USA. In deren Inneren ist von außen kein_e Fahrer_in zu erkennen. Es spricht das Auto. Und was es spricht, ist unmissverständlich: Weg da! Ich komme!

Diese Pkws sind kleine Lkws.

Das Besondere an den amerikanischen Lkws: Sie haben eine weit nach vorne ausragende Schnauze und führen sich allein mit dieser Gebarung wie Ungeheuer auf. Wo sie auftauchen, nehmen sie die ganze Straße in Beschlag. Fehlt nur noch, dass diese Monster auch bei uns heimisch werden.
Eines muss man diesen Fahrzeugen, deren oberste Bestimmung darin zu liegen scheint, Schrecken zu verbreiten, zugutehalten: Sie sind ehrlich. Sie sagen, was Sache ist: dass nämlich das Auto, das vor langer Zeit einmal der Mobilität gedient haben mag, heute eine veritable Gefahr darstellt, ja eine potenzielle Tötungsmaschine ist. Belegen lässt sich das mit Zahlen: Auf den Straßen der Welt lassen jährlich über eine Million Menschen ihr Leben. Damit fordert das Auto einen größeren Blutzoll als alle Kriege und Bürgerkriege zusammen. Und es soll noch schlimmer kommen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO prophezeit, dass in 15 Jahren jährlich mindestens 1,8 Millionen Menschen im Straßenverkehr sterben werden. Ein Schreckensszenario.
Und schrecken wir uns? Kaum. Kurz vor Weihnachten 2018 wurde in der kleinen burgenländischen Gemeinde Heiligenkreuz ein 70-jähriger Mann beim Überqueren der Straße von einem Auto erfasst und getötet. Klar, in Heiligenkreuz sprach man tagelang über den Unfall. Aber sonst? Berichteten die Zeitungen darüber? Nein, Unfälle dieser Art kommen ja fast jeden Tag vor, kaum der Rede wert.
Gewiss, auf Österreichs Straßen ging es schon schlimmer zu. 1972 war das Jahr mit der höchsten Zahl an Unfalltoten (2.948). Mittlerweile hat sich die Situation gebessert: 2017 starben «nur» noch 414 Menschen auf Österreichs Straßen, Verletzte: 37.000.
Dennoch: Die Zahlen sind viel zu hoch. Immerhin ereignen sich Tag für Tag mehr als 100 schwere Unfälle auf unseren Straßen! Nahezu jeder oder jede weiß von einem Menschen, der bei einem Verkehrsunfall schwer verunglückt oder ums Leben gekommen ist. Und da ist noch nicht einmal der Schaden mit einberechnet, den das Auto durch Lärm und Luftverpestung verursacht.

Vom Flugzeug aufs Auto umgestiegen.

In den USA fordert der Straßenverkehr jedes Jahr nicht weniger als 350.000 Tote. Nach den Anschlägen auf die Twin Towers in New York war der Schrecken der Amerikaner_innen groß, ebenso ihre Angst vor weiteren terroristischen Akten. Sie stiegen daher vermehrt vom Flugzeug aufs Auto um. Auf Nummer sicher wollten sie gehen, brachten sich solcherart aber erst recht in Gefahr. In den zwölf Monaten nach den Anschlägen, schreibt der Berliner Psychologieprofessor Gerd Gigerenzer in seinem Buch Risiko, kam es in den USA zu rund 1.600 Verkehrstoten mehr als in den Jahren zuvor. Sie wurden Opfer eines Verkehrsaufkommens, das binnen kurzem gewaltig zugenommen hatte.
Warum nehmen wir den täglichen Schrecken so gleichgültig hin? Warum haben wir Angst vor Spinnen und Schlangen, aber nicht vor der wahren Gefahr unserer Zeit, dem Auto? Gigerenzer erklärt dieses Phänomen mit den Mechanismen unseres psychischen Apparats: Je seltener und damit auch überraschender sich ein Unglück ereignet, desto eher nehmen wir es wahr. Das typische Beispiel dafür ist ein Flugzeugabsturz. Ein höchst seltenes Ereignis. Passiert es, berichten garantiert alle Zeitungen darüber, und unser Schrecken ist groß. Umgekehrt gilt genauso: Je alltäglicher ein Unglück, desto weniger nehmen wir es zur Kenntnis. «Wenn genauso viele oder mehr Menschen über einen längeren Zeitraum verteilt sterben, bleiben wir eher gelassen», schreibt Gigerenzer.
Und so setzt sich der tägliche Auto-Wahnsinn ungehindert fort. Mit dem Segen unseres Verkehrsministers im Übrigen, der sich bei der Angelobung dazu verpflichtet hatte, Schaden von der österreichischen Bevölkerung abzuwehren. Doch was schert ihn heute, was er gestern geschworen hat: Die Geschwindigkeitsbegrenzung hat er auf mehreren Teilstücken der Autobahn angehoben – er lässt also ordentlich auf die Tube drücken, auf dass sich noch mehr Autos crashen und die Umwelt noch schneller vor die Hunde geht.

Weg vom Auto.

Zuletzt sind Diskussionen um den Abbiegeassistenten aufgekommen, er soll dazu beitragen, den Blutzoll auf unseren Straßen zu senken. Dass man viel weiter gehen kann und entschlossener vom Fetisch Auto und einem überkommenen Verkehrskonzept abrücken kann, beweist Oslo. Die norwegische Hauptstadt möchte den Auto-Wahnsinn nicht länger mitmachen. Sie möchte autofrei werden, die Stadtväter und -mütter arbeiten an diesem Plan. Hunderte Parkplätze sind bereits aus der Innenstadt verschwunden. Der Stadtraum, bisher von Autos zugeparkt, soll wieder zum Flanieren einladen. Mehr Genuss, weniger Leid, so lautet das Motto, damit auch weniger genervte und aggressive Zeitgenoss_innen. Eltern sollen nicht länger Angst um ihr Kind haben müssen. Die Menschen in Oslo wünschen sich eine Stadt, in der sie sich wieder frei bewegen, gut atmen und schlafen können. Man muss es also nur wollen. 

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