Über Flucht und andere Bewegungen - Ruth Beckermanns neuer Film
In Ruth Beckermanns künstlerischem Schaffen sind Migration, Reisen, Ankommen, Aufbruch immer wiederkehrende Motive, ihre jüngste Filmarbeit «Those Who Go Those Who Stay» beschäftigt sich nahezu ausufernd mit diesem Themenkreis. Ein Augustin-Interview mit der Autorin und Regisseurin über ein sich veränderndes Europa, Textilien als roter Faden, das Moment der Ratlosigkeit und die offene Form als filmisches Mittel.
Der Titel Ihres neuen Films «Those Who Go Those Who Stay» sagt schon, es geht ums Gehen, ums Bleiben, was ein sehr großes Thema ist. Warum gerade dieses Thema?
Bei mir schließt immer ein Film an den vorigen an, und der vorige war «American Passages», ein Film über die USA. Mich hat es jetzt interessiert, einen Film über Europa zu machen, weil ich glaube, dass Europa sich sehr verändert hat in den letzten zehn, fünfzehn Jahren und sich gern von Amerika abgrenzt und sich als etwas ganz anderes empfindet, aber in Wirklichkeit den USA viel ähnlicher wird als Teil des Westens. Film halte ich für eine gute Möglichkeit, eine sich verändernde Oberfläche zu zeigen, die man sonst vielleicht gar nicht so bemerkt. Wenn man «Those Who Go Those Who Stay» ansieht, dann sieht man, dass viele Plätze in Europa so aussehen, als könnten sie irgendwo sein. Man merkt, dass Europa sich sehr verändert hat und ein Europa der Menschen geworden ist, die hier leben. Und das sind nicht mehr, die die früher hier gelebt haben – die «Ur»-Franzosen, -Italiener, -Deutschen usw., sondern es ist eine Mischung von Menschen geworden, die aus der ganzen Welt hierher gekommen sind.
Ich habe schon in meiner Installation «Europa Memoria» vor zehn Jahren begonnen das zu bearbeiten, als ich Erinnerungen von Europäer_innen eingeholt habe, die nicht dort leben, wo sie geboren wurden. Das hat sich unglaublich verstärkt, und dieser Film ist fast so etwas wie eine Fortsetzung dieses Installationsprojekts, das ich 2003 gemacht habe.
Einer der Widersprüche ist der zwischen Migration, die oft erzwungen ist, und Urlaub. Wobei Migration ein auch in den Medien stark präsentes, diskutiertes Thema ist, dabei meist negativ besetzt wird, im Gegensatz zu Urlaub, der natürlich positiv besetzt ist und auch ein Wirtschaftsfaktor. Es sind auch ganz typische Urlaubsbilder in diesem Film. Ist der Film auch ein Versuch, dieses Positiv-Negativ-Schema anzukratzen?
Schon allein der Titel kratzt das an. Die, die gehen, und die, die bleiben, werden als sprachliche Gegensätze aufgebaut, aber natürlich verschwimmen hier die Grenzen. Jene, die kommen, die von wo weggegangen sind, sind dann auch die, die hier geblieben sind. Wir kennen ja das Phänomen, dass Migrant_innen, die – sagen wir – schon zehn Jahre in einem Land sind, sich bereits vor der nächsten Welle von Migration fürchten. Die sind dann schon wieder die neuen Bleibenden. Der Film handelt ja von Bewegung jeder Art. Es gibt den touristischen Blick, die touristische Bewegung, in die Ferien an den Strand in Italien. Es gibt die Fluchtbewegung und zwar nicht nur heute.
Wir reden einmal von Flucht 1938, weg von Österreich und verbinden das in keiner Weise mit der Flucht von Menschen heute. In dem Film kommt eine Geschichte von meiner Mutter vor, die ’38 Wien verlassen musste und nach Palästina ging. Es kommt auf der anderen Seite eine Palästinenserin vor, die in Wien lebt, es kommen Nigerianer in Sizilien vor, es kommen diverse Fluchtbewegungen vor, auch andere Bewegungen.
Auch die Rolle der Textilien im Film, die so etwas wie ein roter Faden und ein Kommentar sind, zeigt die Bewegung an. Also, die Stoffe wandern, die Menschen, die Textilien herstellen, wandern. Ich habe in Prato gedreht, der heute größten chinesischen Stadt in Europa, wo die Textilien hergestellt werden, die in diesen kleinen Boutiquen verkauft werden. Die werden dort von chinesischen Sklavenarbeiter_innen hergestellt, kann man sagen. Das Ganze ist in Bewegung, und Bewegung interessiert mich natürlich, schon allein weil die Bewegung der Kamera am Beginn des Filmemachens steht. Auch damit beschäftige ich mich in diesem Film – mit der Art und Weise, Dokumentarfilme zu machen.
Der Film hat keinen Kommentar, auch keine Inserts, man erfährt vieles erst im Nachspann. Ich finde, der Film ist daher etwas schwierig zu lesen. Am Anfang steht ein Zitat von Carlo Ginzburg über den Ariadnefaden, das Minotaurus-Labyrinth, das ist vielleicht schon ein Hinweis, wie man sich auf den Film einlassen kann. Der Faden hat Theseus ja erst geholfen beim Herausgehen, beim Hineingehen musste er den Weg selber suchen – den Film muss man sich auch so anschauen.
Es stört mich, dass wir immer nur die fertigen Produkte sehen, die meistens auf einen Plot hingearbeitet sind und die schon geglättet sind. Ich mag immer die rauen, nicht so ganz perfekten Werke, ob das jetzt Bücher sind oder Filme, wo man noch die Suche drin spürt. Das war der eine Grund, warum ich diesen Film so gemacht habe, weil es mir eigentlich um die Wege geht, um diese Umwege. Der andere Grund, warum das ein so offener Film wurde, ist, dass ich den Zustand Europas so erlebe. Ich merke da bei mir eine große Ratlosigkeit, wo das alles hingehen wird. Ich denke, da ist alles offen. Ob es zu einer Möglichkeit des fruchtbaren Nebeneinander und Miteinander führt oder doch zu massiven Konflikten, ausgelöst durch die Angst derjenigen, die meinen, man nimmt ihnen hier was weg von ihrem angestammten, uralten Hiersein. Es ist ein Moment der Ratlosigkeit. Ich könnte gar kein geschlosseneres oder stringenteres Produkt liefern.
Oft beginnen Ihre Filme mit Fahrten, Autofahrten oder Zugsfahrten, jedenfalls mit einer Bewegung. Dieser beginnt mit einem Blick aus dem Fenster an einem verregneten Tag in einem Hinterhof und endet aber mit einer Fahrt mit einer Straßenbahn in Istanbul bei Sonnenschein. Ist das Absicht, in dem Sinn, die Situation in Europa ist unklar, trotzdem geht es weiter mit einem positiven Ausblick?
Das ist ein Stadtfilm, ein Flanierfilm, in keiner Weise ein Roadmovie. Dieser Film beginnt mit Blicken aus einer Dachbodenwohnung in Paris an einem verregneten Tag. Für mich sind das Andeutungen, formal und bildlich, dass es eine Schicht zwischen der Realität und einem selbst gibt, dass da was dazwischen ist, nämlich der Blick, die eigenen Gedanken, alles was man da hineininterpretiert.
Der Schluss des Films zeigt einen kleinen Jungen, der auf der Straßenbahn, die auf der ?stiklal-Straße in Istanbul zum Taksim Platz hinfährt und zurück. Das war für mich wieder so ein Glücksmoment, wie sie einem beim Dokumentarfilm zum Glück immer wieder passieren. Es beginnt ein Dialog ohne Worte zwischen mir – der Kamera – und einem Menschen. Es war einfach ein sehr schöner Moment, ein filmischer Moment, den ich an den Schluss des Films stellen wollte. Und außerdem hat es mir gefallen, den Film mit Istanbul und einem kleinem Jungen zu beenden, weil ich mich auch frage, wie geht es weiter mit Europa, mit der Türkei? Was wird aus diesem kleinen Jungen? Wird er nach Europa auswandern, wird er in der Türkei bleiben? Wird das alles eins? Wird das alles islamistisch oder wird es demokratisch? Da stellen sich so viele Fragen, in welche Zukunft er fährt.
Fotos: Lisa Bolyos
«Those Who Go Those Who Stay»
Vom Bleiben und vom Weiterziehen
Meine Güte, wir wollen einfach nur leben – so ungefähr äußern sich zwei junge Männer, die sich gerade durchs europäische Asylsystem hanteln. Beckermann begegnet ihnen in Sizilien. Paris, Alexandria, Czernowitz?, Jerusalem, Wien – die Welt besteht aus Reisenden. Fluchterfahrung, Migration, Weiterziehen, Ankommen sind Teil unzähliger europäischer Biographien. Einwanderungsland, Durchwanderungsland, Auswanderungsland. Aus wem bestehen am Ende Gesellschaften? Was bedeutet «Nationalstaat»? An welche Einschlüsse und Ausschlüsse wird da geglaubt? Zwischen einer FPÖ-Wahlveranstaltung am Stephansplatz, einem Umzug in historischen Kostümen in Prato und dem Screening von Beckermanns 90er Jahre-Produktion «Jenseits des Krieges» spannt sich der (Frage-)Bogen darüber, wie historische Zugehörigkeit verhandelt wird. Ein Film wie eine, oder mehr noch, wie viele Reisen: Entlang der Routen, die Menschen gehen, manche freiwillig und manche nicht, verwebt Beckermann mit der Kamera Geschichten, Orte, auch Zeiten ineinander – poetisch, rhythmisch, aber nicht zufällig. So entsteht eine Symphonie über die Frage, wie gesellschaftliche Entwicklung in Zeiten des Umbruchs aussieht, und gleichzeitig eine Reflexion über viele Jahre des filmischen Schaffens von Beckermann selbst.
L. B.