Weisheit ist Kraft des GeistesDichter Innenteil

Über die Ausstellung im Belvedere «Die Kraft des Alters»

Das war mir noch nie passiert; innerhalb einer Ausstellung vor einer Installation stehend und der Ausbruch meiner Tränen, die ich zurückhalten musste, um nicht gesellschaftliche Grenzen zu überschreiten.

Grafik: Jella Jost

Ich dachte mir, ich möchte Schrei- und Brüll-Räume ins Leben rufen. So wie es öffentliche Toiletten gibt, wo man seinen Kram der Eingeweide wieder entlassen kann, genauso sollte es Räume geben, in denen wir Emotionen Ausdruck geben können, wenn sie auftauchen. Manchmal kann man ja das Pipi oder das Gefühl eine Weile zurückhalten, aber irgendwann geht sich das gar nicht mehr aus, man rast in den nächstgelegenen Lokus, das stille Örtchen oder ein Lokal und gibt sich der natürlichen Prozedur der Ausscheidung hin, anschließend kippt man einen. Wieso werden Emotionen als störend empfunden? Selbst wenn geliebte Menschen vergehen, dürfen wir am Totenbett nicht ungehemmt unserem Schmerz Platz geben, wo er doch genau da zu finden wäre. Und genau deshalb brauchen wir dringend Kunst. Wir brauchen Räume, in denen Zugang zum persönlichen Ausdruck erwünscht ist und kein Hindernis. Die Idee der Abschaffung eines Kulturministeriums, um sich auf etwas fraglich Fragiles wie Heimat zu reduzieren, wäre eine folkloristisch motivierte Kastration von langzeitig gewachsener Kunst und Kultur mit und von allen in Österreich lebenden Menschen und damit ein Totalversagen der Kraft des Geistes. Da tut es gut, zeitgenössische feministische Künstlerinnen im Belvedere zu besuchen.

Vergangenes Altrosa

Meine Tränen rollten, als ich im Unteren Belvedere vor einer Tapisserie stand, vor dieser wunderschön gewebten Landschaft in blassem Lindgrün, Sand und vergangenem Altrosa projiziert sich ein Film in Zeitlupe, der langsame und elegante Gang einer Frau, ihr Mantel und ihre Schuhe schattenartig noch zu erkennen, könnten aus den 60er-Jahren sein. Da war ich geboren. Ich wiederum projizierte aus dem Archiv meiner Erinnerung meine Mutter, die vor ein paar Jahren starb. Ich sah sie hinübergehen in diesem Bild voller Poesie, Schönheit, Stille und Einfachheit. «Gone» – so der Titel ihres Werkes. Sie hat mich in Zentrum meiner selbst erwischt. Ein großartiges Werk der Schweizer Künstlerin Nives Widauer, geboren 1965 in Basel, in Wien lebend. Subtil auf Gefühlen spielend auch die Schwarz-Weiß-Fotografie von Ishiuchi Miyako, 1947 in Japan geboren, in Tokio lebend: der Torso eines alten Körpers, schützend, leicht gebeugt, beide Arme vor dem Körper verschränkt, Altersflecken. Die Falten auf dem rechten Unterarm ziehen sich vielfach zusammen wie zu dutzenden Armringen. Ähnlich die zwei nebeneinander stehenden Fotografien von Herlinde Koelbl, 1939 in Lindau geboren, Narben und tiefe Spuren eines langen Lebens manifestieren sich wie sorgsam gefaltetes Gewebe am langen, sehr sanft nach vorne gebeugten Rücken einer Frau.

Links davon das Porträt der Frau, madonnenartig, dennoch nicht verklärt, aber fragend, unsicher – wehmütig mit offenen Augen und der Idee eines Lächelns. Beides berührt mich, greift nach mir, greift nach meinem Leben, nach meiner restlichen Zeit hier auf der Erde, und allen geht es genauso. Wieso schweigen wir so viel?

Altern unter Schönheitsdiktatur

Sabine Fellner gelingen direkte weibliche und männliche Berührungs- und Beziehungspunkte in ihrem hochaktuellen Ansatz als Kuratorin der Ausstellung. 188 Werke wurden zusammengetragen von 108 Künstler_innen. Dass Frauen bereits früher als alt wahrgenommen werden als Männer, verstärkt den Druck einer Bemühung, einer Leistung, die nur eines zum Ziel hat: in den Prozess des Alterns einzugreifen. Künstlerinnen wie Margot Pilz oder Martha Wilson stellen dies mit Witz und Ironie infrage. Sie weigern sich, die eingeschrieben Spuren des Lebens in Haut und Gesicht zu löschen, machen sie stattdessen sichtbar. Wilsons Fotografien einer älteren Frau, «Beauty Pass», zeigt auf, wie chirurgische Eingriffe jeden Zug von Individualität und Lebendigkeit auslöschen. Somit wird diese «Alternative» durch Lächerlichkeit enttarnt. Weibliche Identität ist heute immer noch an das physische Erscheinungsbild gebunden.

Margot Pilz inszeniert sich als Konzept- und Medienkünstlerin der ersten Stunde in übergroßem Format einer Fotografie, auf der sie selbst in Aktion mit Hantel zu sehen ist. Pilz zeigt sich mir in diesem Moment als karikiert herkulische Athletin, die sich gegen Zeit und Ablauf ächzend stemmt. Der vorherrschende Jugendlichkeitskult bemüht sich, die Spuren des Alterungsprozesses auszublenden, wegzuwischen, zu cremen, zu lasern, zu schneiden, zu saugen, zu befeuchten. Eine mächtige profitable Industrie. Jenseits der konstruierten negativen gesellschaftlichen Stereotype bedeutet Alter natürlich auch Macht, Erfahrung, Lebensweisheit, Kontemplation, Lebenslust und Triumph über gesellschaftliche Konventionen – insofern mensch gesund ist und das nötige Kleingeld hat, um zu genießen oder zu wagen.

Der englische Titel der Ausstellung «Aging Pride» trifft für mich besser zu als der deutsche. Kraft ist zu sehr konnotiert mit Sport, Leistung, Idealen. Pride ist individueller, und vor allem ist Stolz auch durchführbar, wenn man – ein dringliches Thema, das leider unbeachtet blieb – unter Altersarmut leidet. Im Katalog zur Ausstellung analysiert Robert Pfaller, Philosoph, dass «die Alten […] eben nur hinsichtlich dessen, was sie wie Junge erscheinen lässt, akzeptabel oder liebenswert seien.» «Und tatsächlich wird das Älter-Werden», so der Altersforscher Rüdiger Kunow, «so sehr als Problem betrachtet, so lange unter diesem Vorzeichen diskutiert und beschrieben, bis schließlich eine umfassende Verunsicherung einsetzt.» Alter wird derzeit nicht als natürlicher Lebensabschnitt wahrgenommen, und Anti-Aging impliziert, dass gegen das Alter, wie im Kampf gegen Krebs, etwas getan werden muss, quasi eine Gegenreaktion auf die Unerhörtheit, zu vergehen und zu sterben. Eine Kriegserklärung an alles, was uns an den Tod erinnern könnte. Die Anglistin Heike Hartung schreibt in ihrem leider nur auf Englisch zu lesendem Buch, dass Alter im 21. Jahrhundert als Problem dargestellt werde, welches durch wissenschaftliche und soziale Mittel gelöst werden könne! Nach dem Ethiker und Gerontologen Heinz Rüegger bestimmt die Forderung nach «successful aging», übersetzt mit «erfolgreiches Altern», den gegenwärtigen Zugang zum Alter. «Wurde Altern früher vornehmlich als einfach hinzunehmendes Schicksal verstanden, nimmt es zunehmend Züge eines Machsals (Überforderung) an, das unserem Gestaltungswillen unterliegt und in unsere Verantwortung gestellt ist. Alter wird als Risiko erklärt und diese Sicht in den Medien verbreitet.»

Nacktbadestrand oder Amo Ergo Sum

Es ist nicht einfach, Personen zu finden, mit denen man sich über das Alter(n) und das Sterben unterhalten kann. Deshalb blühen, mittlerweile auch einige in Wien, tausende Death Cafés auf der ganzen Welt. Ich sehe das als gute Entwicklung hin zu mehr Offenheit, bezüglich wichtiger gesamtgesellschaftlicher Themen, die als «negativ» von Leuten bewertet werden. Ich vermute da eher Angst dahinter. Gefühle wie Angst und Wut sind schwer negativ aufgeladen, und unsere Gesellschaft lehrt uns keinen konstruktiven Umgang, wie wir alle damit vernünftig fertig werden können. Es besteht Handlungsbedarf, Altern und Sterben neu zu definieren. Doch diese Themen finden schwer Zugang in unsere Gesellschaft. Keinen Kredit mehr auf die Zukunft, sagte Jean Améry.

Völlig anders geht Frau Elfriede Vavrik die Sache an. 79-jährig und Single ging sie aufgrund von Schlafstörungen zum Arzt. Dieser sagte, sie solle sich einen Liebhaber suchen, das sei gesund. Frau Vavrik lachte. Trotz anfänglicher Skepsis schaltete sie eine Anzeige. Weit mehr als 100 Männer zwischen 17 bis 50 Jahren meldeten sich. Darüber schreibt sie mit Humor und ohne Scham in ihrem 2010 erschienen Roman «Nacktbadestrand». Den Roman habe sie verfasst, um anderen alten Frauen Mut zu machen. «Die älteren Frauen glauben alle, sie sind nichts wert. Das stimmt doch überhaupt nicht. Alt und hässlich? Den Männern ist dieses Perfekte ja überhaupt nicht wichtig, die schauen ja gar nicht so auf jedes Detail. Das bilden sich die Frauen ein.» Auch Renate Bertlmann 1943 in Wien geboren, feministische Pionierin, kommentiert den Altersdiskurs mit Ironie. Amo Ergo Sum (Ich liebe, also bin ich). Sie präsentiert einen grell orangefarbenen erigierten Penis auf einem goldenen Polster, gleich einer Königskrone, umrandet von hellblauen Diamanten, der Farbe des Viagra. Und Suzy Lake: «Ich begehre noch immer und möchte begehrt werden. Ich habe kein Interesse an operativen Eingriffen, die meine Erfahrungen überdecken. Ich bin der Meinung, dass meine Erfahrung wertvoll ist, und will die Reife des älteren weiblichen Körpers als andere Form von Schönheit darstellen.» Die Ausstellung läuft bis 4. März 2018 im Unteren Belvedere. Gehen Sie hin. Nehmen Sie sich Zeit. Zeit ist Raum. Und Raum ist zeit- und alterslos.

INFO

Die Kraft des Alters

Ausstellung bis 4. März 2018

Unteres Belvedere, 3., Rennweg 6

www.belvedere.at

 

www.deathcafe.com

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