Weiß und RosaDichter Innenteil

Illustration: (c) Silke Müller

«Hallo Vera!»
«Hallo Mirko!»
«Ein sehr netter Junge liegt im Koma im AKH, kannst du für ihn beten? Bitte!»
«Ja, sag seinen Eltern, sie sollen mich anrufen», rief ich und legte den Hörer auf. Schon wieder wird es Krieg geben, dachte ich erschöpft, denn jedes Mal, wenn ich für jemanden betete, kam der Teufel, es gefiel ihm nicht, dass ich Seelen aus seinem Territorium stahl.
Doch verlassen wir die geistige Welt und begeben uns in die sichtbare. Die Tatsache ist, dass ein Mann mit 29 Jahren seit einem Tag im Koma auf der Intensivstation des AKH liegt. Leblos in der Donau von einem Passanten gefunden. Kein Mensch weiß, wie er dorthin gelangte, ob er alleine von der Reichsbrücke sprang. Hat der Augenblick keine mitfühlende Figur vorbeigeschickt, um diesem armen Kerl eine Zigarette anzubieten und sanfte Worte des Lebens einzuflüstern, um die elende Seele zu beruhigen? Begegnet man solchen Menschen nur in Hollywoodfilmen? Sind die Fahrradfahrer, Läufer, Hundebesitzer in Wien zu beschäftigt, um einen Blick zu werfen und dieses Unglück zu verhindern? Konnte man sein Vorhaben überhaupt stoppen, wenn nicht an diesem Tag, hätte er das gleiche versucht im nächsten Augenblick …?
Es fragt sich nur, wer war hinter diesem grauslichen Akt, was hat ihm jede Lebensfreude geraubt? Hat er sich selber in diese Lage begeben? Selbst dann, wie viel muss man als Spieler schuldig sein, dass man grünes Licht bekommt, sein Leben auszulöschen? Der junge Mann sprach wenig über sein geheimvolles Leben, zumindest nicht mit seiner Familie. Man wusste nur, dass er Spieler war, dass sein Arbeitslosengeld niemand gesehen hatte seit vielen Monaten, dass er gerne Jägermeister trank und er nur sprach, wenn man ihn etwas fragte.
An diesem Februarmontag war es bitter kalt, die Donau war dunkel, während hohe Wellen tanzten und der Nordwind bis zu den dunklen Wolken empor jaulte. Kalte Regentropfen und Schnee setzten sich auf seine dunklen Haare, die ihm immer wieder den Blick versperrten. Dennoch weder Wind noch Regen, noch die unsichtbaren Zeugen konnten das böse Vorhaben stoppen. War er allein oder jemand neben ihm? Ein sichtbarer oder unsichtbarer Begleiter, einer oder mehrere? Haben sie ihm geholfen, diesen Sprung zu wagen, während einer vorsichtig um sich blickte, der zweite ihn hob und ins tiefe, schwarze Wasser schubste? Hat diese arme Seele in diesen Augenblick, während sie noch im warmen Körper war, auf ein Wunder gewartet? Dass jemand die Hilfeschreie unter Wasser hörte oder dass sein Körper laut planschte? Dass hinter einem Gebüsch Schwäne und Enten wenigstens diesem hilflosen Wesen Hilferufe an vorbeigehende Passanten schicken, dass ein Pudel zum Bellen beginnt … Man braucht keinen schwarzen Gürtel – es genügt nur ein paar Schritte weiter zu gehen und 133 anzurufen, ein Handy trägt heutzutage jeder bei sich.
Ein paar Stunden später fand man ihn neben dem Ufer, leblos im Wasser treibend. Polizei und Rettung kamen, Elektroschock holte seine Herztöne, doch sein Geist blieb woanders. Man fand keine Spuren von Gewalt. Alles, was man von ihm an diesen Tag wusste, war, dass er vormittags mit seiner Mutter unterwegs zum Magistrat gewesen war, um seinen Führerschein zurückzubekommen, schuld daran war der Jägermeister. Es heißt, dass er nervös im Wohnzimmer saß in seiner dunklen Jacke und mit jemanden SMS tauschte. Dass er mit ängstlichen Schritten, zittrigen und nassen Händen seine Kinder und seine Frau umarmte und rief, er ginge zur Bank, um zu schauen, ob sein AMS-Geld angekommen sei – das waren seine letzten Worte.
Was stand in der Polizeiakte? Ein Spieler, der hoch verschuldet war und ein Doppelleben führte, Tod am 24. Jänner 2022 zwischen 14 und 18 Uhr, gefunden von einem Passanten bei der Reichsbrücke, keine verdächtigen Spuren. Weder seine Frau noch seine Eltern wussten von seinem geheimnisvollen Tun. Wenn jemand etwas wusste, dann nur seine jungen, ängstlichen Freunde, die bitterlich am Telefon weinten. Doch sie schweigen, denn sie fürchten das gleiche Schicksal wie ihr Freund.
Währenddessen warten drei kleine Kinder zu Hause auf ihn, eine Frau. Eine Mutter und ein Vater, die nach Italien gegangen waren, um zu betteln. Die dort im Regen auf Kartons schliefen. Die jetzt hier in Wien viele Jahre hinter sich haben, mit verkrümmten Rücken. Dafür haben sie ein großes Haus in ihrer Heimat errichtet, für ihren einzigen Sohn. Ein Haus in Serbien für ihn zu zaubern, ihm jeden Wunsch zu erfüllen … Denn es waren viele sehnsüchtige Jahre, in denen er bei der Großmutter lebte, als sie, seine Eltern, in den Westen gingen und großes Geld für ihn verdienten.
Jetzt stand diese alte, zierliche Figur mit grauen Haaren und einem blassen Gesicht neben ihm mit leeren Händen, die um sein Leben flehten. Was würde er alles geben, all die verlorenen Jahre zurück zu spulen. Kein großes Haus, kein Auto, nichts kann dieses Gefühl des Verzweifelns ersetzen als nur das eine, dass sein Kind wieder aus dem Koma zurückkommt. Dass sich seine Augen ganz öffnen, ihn erkennen und der Sohn bald mit ihm nachhause geht und sie gemeinsam Jägermeister trinken.
Auch ich war da und Zeugin eines gebrochenen Vaterherzens, dort neben dieser jungen Gestalt, die nur mit einem weißen Leintuch bedeckt war, und am Sauerstoff hing. Seine braune, glatte Stirn und seine dichten, schwarzen Haare sowie seine vollen Lippen verrieten, dass er gerade zu blühen begonnen hatte.

Seine Augen blieben zu und schweres Atmen erfüllte das Zimmer

Nur selten und halb hob er seine schweren, braunen Augenlider. In diesen Augen lag keine Sehnsucht, er zwang nur seine Muskeln, den alten Mann zu begrüßen, ein wenig Trost zu spenden. Seinem Vater, der neben seinem Bett stand und sehnsüchtig wartete, dass er endlich aus dieser fremden Welt zu ihm zurückkehrte. Immer wieder sprach er Romanes mit ihm, als würden die Ohren auf diesem ohnmächtigen Körper nur diese Sprache erkennen und er endlich aufwachen.
Stattdessen blieben seine Augen zu und ein schweres Atmen erfüllte das Zimmer … Der zierliche, kleine Mann drückte immer wieder auf das Handy, das auf dem Bauch des Sohnes lag und sich im Takt seines schweren Atems bewegte. Immer wieder wiederholten sich stumme Bilder auf dem Handy: Geburtstag seiner Neunjährigen. Als ich sie das letzte Mal sah, weinte sie herzzerreißend um ihren Vater.
Ich fühlte einen tiefen Schmerz, nahm mein Salböl und kniete mich nieder, ich bat Jesus, dass er ihn wieder zurückholt wegen seiner süßen Tochter, wegen seiner Frau und seinen Eltern. Tränen flossen jetzt über mein Gesicht. Ich hatte Visionen, dass er wieder zurückkommen wird und hungrig nach einer Leskovačka Pljeskavica verlangt … Im Zimmer lagen noch zwei Komapatienten. Eine Schwester kam und betete mit uns, Vater unser … Einen ganzen Monat hatte ich immer wieder an diese Visionen gedacht. Ich war mir so sicher, dass dieser Junge aus dem Koma aufwacht, nicht so sehr wegen ihm, vielmehr wegen seinen gebrochenen Eltern, Kindern, seiner Frau, seinen Freunden. Er musste nicht um dieses Leben spielen oder sich verschulden. Nur ein «Ja» hätte genügt. Doch er entschloss sich anders. An einen Samstag starb er …
Ich habe seinen Eltern falsche Hoffnung gemacht, betete ich heulend, ich bin eine falsche Prophetin. Wie soll ich jetzt vor sie treten, rief ich weinend. – Es war seine Entscheidung. – Ich erkannte, dass ich mehr an die Lebenden dachte, alle wollten, dass er bei ihnen bleibt, doch niemand fragte, was wollte diese Seele … Erleichterung erfasste mich. – Seine Seele fühlt sich sicher und frei im Himmel, hörte ich wieder. Ich sah jetzt einen kleinen Jungen mit großen, schwarzen Augen in Jesus’ Armen. Er zog an einer großen Blume, eine Mischung aus Lotosblume und Protea, mit Genuss roch er daran und gab sie dem Meister zu riechen.
Zum Begräbnis brachte ich zwei Rosen, eine rosa, eine weiß. Der Verkäufer sagte: «Er ist ein Mann, nehmen Sie Blau oder wie alle anderen nur eine weiße Rose.» Ich rief überzeugt: «Ach, lassen Sie, ich sah ihn mit einer rosa Blume.» Der Verkäufer sah mich verdutzt an.