Porträt: Filmemacher Johannes Gierlinger
Filme machen. Was ist revolutionär? Was ist politisch? Was bindet gestern an heute und morgen? Johannes Gierlinger ruft mit seinen Filmarbeiten die Geister der Geschichte an, um die Gegenwart zu verstehen. Bettina Landl (Text) und Carolina Frank
(Foto) haben ihn in seinem Atelier getroffen.
Welche Geister wirken aus der Geschichte nach? Wie wirken sie nach? Und wie haben sie sich verändert? Diese Fragen beschäftigen Johannes Gierlinger derzeit. Es sind die Fragen, die er sich für sein aktuelles Filmprojekt Die verlorenen & ver-gangenen Zukünfte stellt.
Der 1985 in Salzburg geborene und seit seinem Studium an der Akademie der bil-denden Künste in Wien lebende Künstler beschäftigt sich mit Geschichte, Erinnerung, Gedächtnis und Widerstand sowie mit deren Darstellungsformen. Er erforscht Lesarten, Zweifel und mögliche zukünftige Bilder in Form von essayistischen Filmarbeiten. Stadt, Gesellschaft, Identität und Krise sind nur ein paar der großen Themen, denen er sich in seinem jüngsten Projekt über die «Zukünfte» widmet. «Mir geht es vor allem darum, die Geschichte lebendig zu halten, und für mich ist sie das nur, wenn Brücken zur Gegenwart geschlagen werden, insbesondere wenn man deren Auswirkungen in der Gegenwart spürt», erläutert Gierlinger beim Gespräch in seinem Atelier.
Der Blick der anderen.
2015 begann er, bei verschiedenen Demonstrationen zu filmen. «Erstmals habe ich nur in Wien gedreht. Jetzt geht es an den Schnitt. Der macht beinahe den Hauptteil der Arbeit aus. Neben dem Bild spielt die Sprache eine zentrale Rolle. Hier stellt sich mir die Frage, wie etwas formuliert, welche Sprache gewählt und was erzählt wird. Die umfangreiche Recherche, all die Interviews und der Text, den ich parallel entwickle, zeigen, dass das Poetische oft auch in Politischem zu finden ist», erzählt der Künstler, dessen Arbeiten regelmäßig bei nationalen und internationalen Filmfestivals gezeigt werden. Sein 30-minütiger Essayfilm Die Ordnung der Träume lief 2017 in der Rubrik Innovatives Kino im Programm der Diagonale in Graz: Acht essayistische Miniaturen umkreisen das Motiv der Stadt, verdichtet zu einem abstrakten Vexierbild von Urbanität.
Nebelartig und traumhaft fügen sich hier Bruchstücke der Erinnerung zu einem assoziativen und zugleich formal präzisen Imaginationsraum. Der Film ist ein Poem, das die Bewegung der Menschen, ihre Widerstände, deren geistige Tätigkeit und die Imagination ihrer Welten umkreist, und die Frage aufwirft: Ist der einzige heutige revolutionäre Gedanke der, den oder die Träumende_n schlafen zu lassen? Zwei sich Suchende werden darin nie zu Fündigen und verharren dennoch stets im Gemeinsamen. Zwei zweifelnde Figuren, deren Konversation durch die unterschiedlichen Vorstellungen und die Skepsis am Gegenüber geprägt ist. Erst durch den Blick der anderen werden sich die Figuren im Film des flüchtigen Moments ihrer Realität bewusst. Der Film ist eine Spurensuche nach der Ordnung einer Welt der Imagination, einer Welt der Blicke, einer Welt, die sich per se jeglicher Ordnung entzieht.
Neue Ordnung.
In Form eines essayistischen Stadtporträts über die polnische Stadt Białystok widmet sich Gierlinger in Remapping the origins (2018) den Ursprüngen einer anderen politischen Ordnung durch die Neuordnung der Bilder im Kino. Dabei baut er eine filmische Stadt, die es so nicht gibt – vielleicht einmal in der Vergangenheit in Ansätzen gab oder möglicherweise in der Zukunft geben wird – zwischen dem, was sich nie ganz etabliert hat, und dem, was als Utopie in den Köpfen weiterlebt.
Białystok war einst ein Zentrum der anarchistischen Bewegung, visionäre Denker wie der Esperanto-Begründer Ludwik Lejzer Zamenhof und der Filmemacher Dziga Vertov sind hier geboren. Heute – in der politischen Gegenwart Polens und mit dem Wiedererstarken von Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus – ist davon wenig zu spüren. Neuordnung der Bilder meint somit auch eine «neue Ordnung» des Politischen und der Geschichte, die Gierlinger im Film zu formieren sucht.
Remapping the origins dreht sich um die Konstruktion von Geschichte, individuellem und kollektivem Gedächtnis und Widerstand. Die Stadt dient dabei als eine Metapher für Europa und versucht, den Widerspruch zwischen Nationalismus und Multikulturalismus aufzudecken und über historische Erzählungen zu reflektieren, um Zukunftsperspektiven greifbar zu machen.
Kollektives Gedächtnis im Film.
«Ich beschäftige mich schon seit längerem mit dem kollektiven Gedächtnis im Essayfilm und dem Versuch, ein Thema zu beschreiben. Eine solche Erzählung muss nicht wissenschaftlich sein, sondern kann und soll durchaus etwas Subjektives, sehr Persönliches aufweisen. Der Essayfilm integriert verschiedene Mittel wie dokumentarische Formen, Spiel- und Experimentalfilm wie auch Collage. Es ist eine sehr freie Ausdrucksform. Meine Filme bestehen meistens aus mehreren Kapiteln, die sich in weiterer Folge auch neu sortieren lassen, sodass einzelne Fragmente darüber hinaus für Ausstellungsformate angepasst werden können. Jedoch beginnt es immer mit einer Filmarbeit, die für das Kino gemacht ist, aber dort muss und soll sie nicht bleiben.»
Vorsichtig geht Gierlinger mit den Themen um, fängt Stimmen und Stimmungen ein, verhandelt vor allen Dingen abstrakte Begriffe wie Unterdrückung und Revolution und hinterfragt gesellschaftliche Systeme und Mechanismen wie auch das Objektive am Dokumentarischen. Es geht ihm darum, bewusst eine subjektive Haltung einzunehmen, um eine Darstellung der Fakten und eine Reflexion darüber: «Ich spüre mehr von einer ‹Wahrheit›, wenn ich bemerke, dass die Person, die einen Film macht, eine Position hat und nicht ‹objektiv› behauptet: So ist es. Für mich erzeugt genau diese Reflexion etwas, worüber ich dann weiter nachdenke. Am Essayfilm finde ich bemerkenswert, dass die eigene Person, also die des Filmemachers, immer mit hinterfragt wird, speziell in Bezug darauf, was dieser macht bzw. was dieser abbildet.»