Weltmeistervorstadt

Heldenverehrung für den guten Zweck

Das Schweizer Sammelalbum Tschutti-Heftli versteht sich als kommerzkritische, ästhetikversierte Alternative zu den klassischen Panini-Heften. Mareike Boysen (Text) und Nina Strasser (Foto) haben den österreichischen Vertriebspartner bei einem seiner Zwischenhändler getroffen.Mit Weinen kenne er sich aus, sagt Andrzej Koch. Sein Sortiment aus sieben verschiedenen Schweizer Sorten mache ihn, was wenigstens die Variation anbelange, zum Marktführer in Österreich. Koch sitzt an diesem Freitagnachmittag mit Strohhut und halb vollem Glas in dem, was er den «kleinsten Gastgarten Wiens» nennt. Zwischen Gehweg und Fahrbahn nimmt die Holzterrasse in der Wollzeile einen Parkplatz in Kleinwagengröße ein. Der Name des dazugehörigen Geschäfts ist Programm wie Selbstbezeichnung: «Der Schweizer» vertreibt in der Hauptsache erlesene Käsesorten.

Nationalismus pur. «Dass ich bei 80 Prozent Luftfeuchtigkeit außerdem ein Sammelalbum aus Papier anbiete, ist ja völliger Blödsinn», sagt Koch. Damit die Tschutti-Heftli und die Porträt-Bildli also nicht zu wellen beginnen, bewahrt er sie im Büro in einer Schublade auf. «Das ist für die Kenner.» Wobei: Von Fußball verstünden die Österreicher ungefähr so viel wie vom Käse. «Ich bin selbst nur zur WM und EM Fan», bemerkt Koch. «Und zwar von der Schweiz, solange sie im Turnier ist. Fußball ist doch Nationalismus pur.»

An dieser Stelle hakt Thomas Rihl ein: «Schau, ich halte immer zu den anderen.» Als Geschäftsführer von Job-TransFair, einem BFI-Unternehmen zur Unterstützung von Langzeitarbeitslosen und anders Benachteiligten, hat er 2016 den Vertrieb der Tschutti-Heftli-Produkte für Österreich übernommen. «Vielen unserer Klienten fehlen Training und Sicherheit», sagt er. «Während der Verkauf traditionell ein Bereich ist, in dem Arbeitskräfte gesucht werden und in den wir vermitteln können.» Insgesamt 15 Transitkräfte übernehmen neben Schichten im unternehmenseigenen Geschäft «Schön & Gut» in der Preßgasse die Betreuung von Tschutti-Kunden_innen und des Online-Shops auf Deutsch und Englisch, die Lagerverwaltung und die Kommunikation mit den Zwischenhändler_innen. Auf die Frage, nach welchen Kriterien er Letztere auswähle, sagt Rihl: «Beim Andrzej kaufe ich meinen Käse. So bunt wie das Album sollen auch die Menschen sein, die sich dafür begeistern und die es vertreiben.»

Viele Stile. Zur heuer in Russland stattfindenden Weltmeisterschaft kommt das Schweizer Sammelalbum mit 522 Stickern daher, die – und das ist das Besondere am Produkt – von 82 verschiedenen Künstler_innen aus 24 Ländern gestaltet wurden. Die Nationalmannschaften von Frankreich und Uruguay etwa sind im Comicstil dargestellt, die Spanier geben sich als alte Meister, die Serben ähneln Bügelbildern. Es ist die sechste Ausgabe des Albums, für das seit seiner Gründung vor zehn Jahren in Luzern bislang etwa 16 Millionen Bildli verkauft wurden. Preise von 1,50 Euro pro Sackerl aus zehn Stickern gehen mit Kommerzkritik einher. «Wir sind die Guten!», behauptet die Website fairkauf.at. Das begründet man einerseits mit einer Haltung: Die erste Doppelseite im Album ist den FIFA-Statuten gewidmet, aus denen ein Auszug zur Anti-Diskriminierung so abgedruckt wurde, dass man ihn kaum noch lesen kann. Andererseits gibt der Verein Tschutti-Heftli eine karitative Garantie: Zehn Cent bzw. Rappen pro Sackerl gehen an das Kinderhilfswerk «Terre des Hommes».

Randgebiete. Alben und Sticker gehen nicht nur in Wien über die Ladentheken, sondern auch in Amstetten, Eisenstadt, Graz, Linz sowie, neuerdings, St. Pölten. Dafür ist Katharina Kainz verantwortlich. Die in der Niederösterreichischen Landeshauptstadt beheimatete Grafikdesignerin ist eine von vier Vertreter_innen Österreichs im aktuellen Sammelalbum. «Ich bin als Wirts-hauswuzzlerin zum Fußball gekommen», sagt sie am Telefon. Für den Wettbewerb reichte Kainz wie 522 andere im vergangenen Herbst ein Diego-Maradona-Porträt ein. Im November teilte man ihr mit, die Jury habe sie für die dänische Nationalmannschaft ausgewählt. Gemeinsam mit ihrem Mann Thomas, Sportreferent im St. Pöltener Gemeinderat, bemühte sich Kainz seither erfolgreich um die Einrichtung von Verkaufsstellen in zwei örtlichen Spielwarengeschäften. Zu Österreich-Testspielterminen organisieren die beiden Tauschbörsen für Panini- und Tschutti-Sammler_innen. Zwar seien Online-Börsen wie stickermanager.com ein großer Konkurrent. «Aber der persönliche Austausch ist doch schöner», sagt Kainz.

Sentimentale Goodies. Dass mit der verpassten Turnierqualifikation Österreichs auch die hiesige Tschutti-Begeisterung zurückgehen würde, war eine Sorge Rihls, die sich nicht bewahrheitete. «Wir haben schon Sticker nachbestellt», sagt er im Schanigarten des «Schweizers». Viel Beachtung finde heuer die U-13-Kategorie, für die etwa der 12-jährige Wiener Enno Osten ein Porträt von Paulo Dybala beisteuerte. Online lassen sich außerdem Sonderprodukte wie die von Nicolas Mahler signierte Turnier-Ersatzbank bestellen, auf der Marko Arnautović, Gigi Buffon und Arjen Robben per Sticker Platz nehmen. Zum Auftakt der Weltmeisterschaft am 14. Juni findet im Wiener WUK die Vernissage der Matchday-Plakate statt, die vor Ort erworben werden können. Eine klar eingegrenzte Tschutti-Zielgruppe, sagt Rihl, könne er bis heute nicht ausmachen. «Wir haben schon Bestellungen aus der Vorstands-

etage der Deutschen Bank bekommen.»

Gutes den Guten. Zwischenhändler Koch lässt sich derweil von einem Stammkunden, der gerade aus dem Morawa gekommen ist, aus dem Suhrkamp-Band «Die Literatur und die Götter» vorlesen. «Heute gehe ich noch Naturweine verkosten zum Enrico», sagt der Buchbesitzer im Anschluss. «Da gibt es ein kleines Buffet dazu. Und am Wochenende ist Wein-Fest in Langenlois.» Nachdem er sich verabschiedet hat, bleibt ein junger Mann mit südländischem Aussehen vor dem Geschäft stehen und hält eine Hand auf. Er ist verschwitzt, am Rucksack baumelt ein Paar orangefarbener Fußballschuhe. Koch begleitet ihn ins Geschäft und unterbricht seinen Mitarbeiter, der sich Orfeo Ritterband nennt, im Verkaufsgespräch: «Gib ihm irgendwas, ist ja wurscht.» Der Fußballer nimmt das in Papier eingeschlagene Käsestück entgegen, bedankt sich und zieht weiter. Koch schüttelt den Kopf. «Die Hände und das Gesicht kann man sich schon waschen, bevor man betteln geht. Oder?»

Nicht mitgedacht. Vier Tage später, am ersten Mai, soll anlässlich des Champions-League-Halbfinales zwischen Real Madrid und Bayern München eine Tschutti-Sammelbörse in der Sargfabrik stattfinden. Auf Plakaten und per Presseaussendung ist der Termin verlautbart worden. Vor Ort findet sich am Abend allerdings nicht einmal ein Mitarbeiter ein: Die von Job-TransFair betriebene «Kant_ine Vier Zehn», in der etliche Tschutti-Bildli im Großformat aufgehängt sind, bleibt geschlossen. «Am Feiertag ist hier immer zu», sagt ein Anrainer im Vorbeigehen. «Da haben sie wohl nicht mitgedacht.»