Wenn aus Funsport ernste Liga wirdvorstadt

Dodgeball ist die coole angloamerikanische Variante von Völkerball. Sie erfreut sich wachsender Beliebtheit bei all jenen, die einen Zweitsport suchen. Und Weltmeister sind wir auch.

TEXT: HANNES GAISBERGER
FOTOS: MICHAEL BIGUS

Obwohl ich noch nie Dodgeball gespielt habe, fühle ich mich gut gebrieft. Die Grundelemente des Spiels – Schießen, Fangen, Ausweichen – kennt man aus dem Volksschul-Turnunterricht. Dazu habe ich vor langer Zeit Dodgeball – Voll auf die Nüsse gesehen, einen Film mit Vince Vaughn und Ben Stiller. Es bedurfte aller­dings ­einer Internetrecherche, um die Handlung und die Gaststars (Chuck ­Norris, David Hasselhoff) zu erinnern. Kurz gesagt: Ein heruntergekommenes Fitnessstudio für Nerds kämpft gegen ein Hochglanz-Fitnessstudio voller Fies­linge und bezwingt diese im Dodgeball. ­Happy End. Diese leichte Komödie aus dem Jahr 2004 hat dem Sport eine ­Renaissance verschafft und muss als das spirituelle Fundament der Bewegung angesehen werden. Vereine und Verbände wurden gegründet, seit 2010 werden ­Europameisterschaften ausgespielt. Auch hierzulande haben sich Fans des Abwurfsports gefunden. Ein erstes Spaßturnier im Umfeld von Sportstudent_innen auf der Schmelz aus dem ­Jahre 2012 ist belegt. Es muss wohl ziemlich viel Spaß gemacht haben, denn es folgten weitere Turniere, Vereinsgründungen, Ligabetrieb und Nationalteams bis hin zu Europa- und Weltmeistertiteln.
Nach einer pandemiebedingten längeren Pause fliegen Mitte März beim Start der Mixed-Liga endlich wieder die Bälle. In der legendären Halle in der Hietzinger Altgasse kann man die Szene in ­Augenschein nehmen, vorausgesetzt man findet sie, die Halle. Sie liegt unter dem Dachstuhl eines unscheinbaren Hauses, und durch kafkaeske Korridore mehrere Stockwerke hinaufsteigend hört man schließlich quietschende Schuhe und prallende Bälle. Das Geschehen ist für das ungeübte Auge ein Wirrwarr. Völkerball ist dann doch wieder etwas ganz anderes. Beim Dodgeball spielen zwei Sechser-Teams gegeneinander, wobei fünf Bälle gleichzeitig im Spiel sind. Wer abgeschossen wird, übertritt oder wessen Schuss gefangen wird, muss das Spielfeld verlassen. Fängt man einen Ball, darf ein ausgeschiedenes Teammitglied zurück ins Match. Schüsse dürfen mit in den Händen gehaltenen Bällen abgeblockt werden, es gibt ja genug davon.

Plausch mit Pionieren.

Die Spiele sind gefällig, die Halle gut gefüllt, allerdings ausschließlich mit Aktiven. Die Liga besteht aus acht Teams, die Mehrzahl stammt aus Wien, komplettiert durch Vereine aus dem benachbarten Ausland und Tirol. Das Gros sind sportliche ­Student_innen in ­ihren Zwanzigern, es finden sich aber alle Silhouetten und Größen auf dem Spielfeld. Mein besonderes Interesse wecken zwei im Vergleich schon etwas gesetztere Herren in Nationalteam-Trainingsjacken am Rande. Sie gehören zum Dodgeball Club Vienna State Spartans, laut Logo MMXIII gegründet, 2013 also, und damit absolute Pioniere.
Michi ist ein ehemaliger Handballer und spielt nun schon seit acht Jahren Dodgeball. Zuerst fallweise bei Spaßturnieren, dann im Verein und schließlich im Nationalteam. Nun ist er seit 2018 amtierender Weltmeister. «Das war schon ziemlich cool. Wir haben in New York, im Madison Square Garden gespielt. Das Turnier ging über zwei Tage und war recht knackig organisiert. Am ersten Tag haben wir bis zwei Uhr in der Nacht gespielt, am nächsten Vormittag ist es schon wieder weitergegangen.» Mit einer Medaille habe man im Vorfeld schon spekuliert. Dank einer glücklichen Auslosung, die den bisherigen Dominator und Angstgegner England erspart hat, ist es sogar Gold geworden. Wobei Michi viel ­Respekt für die Briten aufbringt. «Ihre Fairness muss man hervorheben. Selbst wenn ein Treffer weder von den Schiedsrichtern noch den Gegnern gesehen oder gehört wird, zeigen sie ihn selbst an und verlassen das Spielfeld.» Ob Michi das bei einem wichtigen Match auch tun würde? So etwas fragt man einen Weltmeister nicht.
Martin ist noch gesetzter als Michi, er ist von der Gründergeneration der Spartans anno MMXIII. Hat der Film damals eine Rolle gespielt? «Na klar.» Ist es Pflicht, sich Voll auf die Nüsse anzusehen, wenn man bei ihnen mitspielen will? «Es muss ihn nicht jeder gesehen haben, aber wir haben ihn alle gesehen.» Allein damit lassen sich die Erfolge des heimischen Dodgeballs, die Martin als Trainer in diversen Funktionen begleiten durfte, aber nicht erklären. «Wir sind nach England gefahren, haben uns umgesehen und zugehört. Über die Jahre haben wir uns herangetastet. Die Damen konnten zuletzt viermal in Folge den EM-Titel holen sowie zwei Vize-Weltmeister-Titel.» Und auch das Mixed-Team konnte bei der letzten Europameisterschaft erstmals ­einen Sieg einfahren.

Immer noch familiär.

Etwa so groß wie ein Handball, aber wesentlich weicher sind die Dodgebälle. Schmerzensschreie hört man keine, wenngleich kräftige Würfe über 100 km / h erreichen können. Der Sport wird von Frauen und Männern gleich gerne gespielt, wie die Zahlen der letzten Jahre belegen. Clara und Maggie sind von den Dodgeball Ninjas und seit fünf beziehungsweise vier Jahren dabei. Maggie hat vorher Tennis gespielt und schätzt die Zusammenarbeit im Team. «Beim Tennis stehst du alleine am Feld, aber hier bist du Teil einer Mannschaft, du besprichst eine Taktik, kommunizierst während des Spiels.» Im Verein trainieren sie dreimal die Woche und heuer wollen sie auch probieren, ins Nationalteam vorzustoßen. «Vor den Turnieren gibt es immer ein Trainingscamp und Tryouts, wo die Spielerinnen gesichtet werden. Das wird schon immer professioneller.» Dennoch bleiben die ­Leute und die Gemeinschaft das Beste am Dodge­ball für die beiden.
Das konnte man also seit den ersten Spaßturnieren 2012 in die Gegenwart mitnehmen, trotz aller Erfolge, was nicht zuletzt ein Verdienst von Max ist. Er hat damals die Turniere auf der Sportuni ­organisiert und – das soll hier festgehalten werden – den Sport bereits ausgeübt, bevor er den Film gesehen hat. Noch etwas: Voll auf die Nüsse oder Nutshots, also schmerzhalte Treffer im Lendenbereich, sieht man im Liga­betrieb kaum. Geübte Spieler (es betrifft im engeren Sinn nur die Spieler) wissen sich zu schützen. Max ist zwar stolz auf das Erreichte, denkt aber schon an die nächsten Schritte. Über den Schulsport soll eine breitere Bekanntheit erlangt werden. «In fünf Jahren sollen 200.000 Schulabgänger_innen wissen, was Dodgeball ist. Wir wollen uns etablieren.» Max redet von den Burschen und Mädchen, die angesprochen werden sollen, und die auch in gleichem Maße Reiz an dem Sport finden. «Ich möchte da gar nicht verallgemeinern. Vielleicht werfen die Männer im Durchschnitt ­kräftiger und die Frauen können im Durchschnitt besser fangen oder ausweichen. Aber dazu kommen die vielen individuellen Stärken, und so entsteht vor allem im Mixed-Bewerb eine Komplexität, die spannend ist.»
Max betont, dass viele der Verantwortlichen im heimischen Dodgeball sportwissenschaftliches Knowhow und Trainerlizenzen besitzen, was die erstaunliche Entwicklung in der kurzen Zeit erklärt. «Trotzdem bleibt Dodgeball ein Zweitsport. Viele spielen ‹auch› Dodgeball, neben Basketball oder Handball oder Tennis.» Wer möchte, dass sein und ihr Kind in der Schule nicht mehr Völkerball, sondern Dodgeball spielt, sollte das Turn-Lehrpersonal mit dem Verband in Kontakt setzen, der gerne Probetrainings und Schulungen anbietet. Vielleicht wird es ja was mit den 200.000, wenn man Völkerball durch Dodgeball ersetzen kann. Viel Zeit bleibt allerdings nicht. In den USA verschwindet der Sport aufgrund seiner (angeblichen) Tendenz, Mobbing-Effekte zu verstärken, langsam aus den Lehrplänen. Die Zukunft gehört dem Gaga-Ball. Was das ist? Reden wir in zehn Jahren weiter.

https://dodgeball.at