Wenn der Geist nicht aufgibtvorstadt

Die glorreiche Zeit der einst längsten Geisterbahn Europas liegt hinter ihr, eine ungewisse kommt auf sie zu. Die Gespenster der Vergangenheit spuken nur noch diesen Sommer über. Eine Bahnfahrt von Nina Strasser (Text und Fotos).

Das Tor öffnet sich und mit einem Ruck verschluckt die Dunkelheit das Wagerl und seine menschliche Fracht. Das Gefährt schleudert um die Ecke. Unter ächzenden Geräuschen wird es von einer Kette steil nach oben gezogen. Die Fahrgäste klammern sich zu diesem Zeitpunkt aneinander, zumindest an den Sitz. Licht blitzt auf, eine Gestalt schnellt von oben vor ihre Köpfe. Eine Sirene heult – dann wieder Dunkelheit und Kettenknarren. Ein Sensenmann wartet um die nächste Ecke, um zwei in einen Stock eingespannte Köpfe abzuschlagen. Doch sein Werk tut er schon lange nicht mehr. Ein Holzhebel über dem Gleis könnte das Mordwerkzeug zum Schwingen bringen. Das Verbindungsseil ist abgerissen. Das Wagerl knallt jetzt gegen Eisenstangen. Richtung Fahrgast schwingt ein Kopf; das Licht geht an dank eines Hebels in den Schienen. Durch einen weiteren erlischt es wieder. Ein paar Köpfe hört man noch krachen. Zu sehen sind sie nicht. Normalerweise funktioniert die Schaltmechanik. Heute aber nicht.

Zur einst längsten Geisterbahn Europas gelangt man vom Praterstern ausgehend in gerader Linie quer durch den Vergnügungspark, bis ihn eine Zufahrtsstraße begrenzt. Dort dämmert sie vor sich hin, gleich neben der Achterbahn «Megablitz». Fünf Konkurrenz-Geisterbahnen liegen auf dem Weg zu ihr, die neueste liefert Horror in 3D. An einem belebten Praterwochenende ist dort jeder Wagen voll. Bis zur langen Geisterbahn verläuft sich kaum jemand. Nur jene, die sich von der hinteren Seite dem Wurstelprater nähern, passieren sie. Vier Euro kostet eine Fahrt. Der Kassier sagt über die Besucher_innenzahl eines Prater-Wochenendes: «Viele waren es halt nicht.» Nur noch diesen Sommer über spuken dort die alten Geister. Danach wird sie umgebaut.

Lang und alt.

Theoretisch ist die lange Geisterbahn die älteste im Prater. 1948 erschuf sie Ida Molzer, eine 1906 geborene Pianistin. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg hatte sie mit ihrem Ehemann, einem Maler und Architekten, einige Pratergeschäfte geführt, und danach, als im Vergnügungsviertel nichts mehr stand, war sie eine der Ersten, der wieder eine Parzelle für den Wiederaufbau zugesprochen bekam. Dabei und in der Folge halfen ihr gute Kontakte zu einem russischen Geschäftsmann – schließlich war der zweite Bezirk sowjetische Besatzungszone. Angeblich marschierte sie damals jeden Morgen von Weidling, wo sie wohnte, 13 Kilometer in den Prater und am Abend wieder nach Hause. Bald nachdem 1943 ihr Sohn Hermann auf die Welt gekommen war, hatte sie sich scheiden lassen. Trotzdem half der ehemalige Ehemann ebenso wie ihr neuer beim Aufbau mit.
Bei der Eröffnung 1948, das zeigen alte Fotos, standen die Menschen in einer langen Schlange an. Die Geschäfte mit dem «Geisterschloss», wie der Name damals lautete, liefen prächtig, bis der Geschäftspartner sich mit ihr zerstritt und mit dem Geld, das sie ihm zahlen musste, schräg gegenüber die Geisterbahn «Zum roten Adler» eröffnete. Anfang der 50er-Jahre verdoppelte Ida, die inzwischen Zecha hieß, das Bauwerk, und so entstand auf einer Strecke von 215 Metern und 600 Quadratmetern, die damals längste Geisterbahn Europas. Noch bevor die Dame mit Turmfrisur und Perlkette 1986 starb, übernahm das Geschäft ihr einziger, leiblicher Sohn Hermann.

Fast 50 Sekunden Fahrzeit sind vorüber, das erste Stockwerk ist erklommen. Das Tor spuckt das Gefährt mit den Menschen schlagartig ins Tageslicht. In Schlangenlinien kurvt das Wagerl an Malereien und zerfallenden Figuren vorbei. Dann zieht die Geisterbahn die Menschen zurück in sich hinein. Es erhebt sich ein vergilbtes Laken aus einer Art Bettgestell. Als Nächstes folgt der Höhepunkt, ein Wunderwerk längst vergangener Zeit. Die Hängebrücke, auf die das Wagerl fährt, bricht, scheint es, entzwei, worauf es mittig und flott abwärts geht. Was den Fahrgästen verborgen bleibt, ist die Werkstatt unter ihnen. Nebst Schraubenschlüsseln, Zangen und Nägeln lagern hier ein altes Kassaschild und allerlei Klimbim. Gespenster wurden hier wiederbelebt und Pflanzen fanden ihren Tod. Es öffnet sich das nächste Tor.

Nur neue Lautsprecher.

Manuel Molzer, Idas Enkel, sitzt auf der Parkbank mit Blick auf die Geisterbahn und wuzzelt eine Zigarette. Aus den Außenlautsprechern tönt Nick Caves Stimme gequält: «Hey man, you know. You’re never coming back.» Die neuen Lautsprecher hat der neue Besitzer eingebaut. Alles andere sei unverändert, diagnostiziert der 40-Jährige. «Doch bald wird alles anders werden.» Molzer zündet sich die Zigarette an. Fünf Jahre alt war Manuel Molzer, als 1983 die Geisterbahn vor seinen Augen zur Gänze abbrannte. Jugendliche waren eingebrochen, hatten mit Fackeln nach Geld gesucht und sie entflammt. Idas Sohn Hermann, Manuel Molzers Vater, baute sie nach altem Vorbild und mit Hilfe von Theaterleuten wieder auf – was auch das schräge Sammelsurium an Figuren erklärt. Hermann Molzer, im Brotberuf Regisseur, arbeitete fortan in den kalten Monaten im Theater, in den warmen saß er an der Kassa. Um 10 Uhr sperrte er auf, um 22 Uhr schaltete er die Lichter aus.
Es ist schon einige Jahre her, als die Zufahrtsstraße noch belebter war. Es gab ein 3D-Kino, Schießbuden und Gaststätten. Ein Betrieb nach dem anderen sperrte zu, doch Hermann Molzer betrieb sein Geschäft unverdrossen. Sein Sohn lud Freund_innen zu Gratisfahrten ein, später freute er sich über Mädchen, die sich im Dunklen an ihn geklammert haben. Zuletzt ging Manuel Molzer mit seinem kleinen Sohn den Opa im Kassahäuschen besuchen. «Ihr werdet mich einmal hier heraustragen müssen», habe dieser oft gesagt. Noch im September des Vorjahres plauderte Hermann Molzer mit Passant_innen, oft in Sprachen, deren er gar nicht mächtig war. Im November verstarb er unerwartet.
Die zwei Söhne und seine Witwe können die Bahn nicht weiterführen. Also wurde sie verkauft. «Emotional war es kein leichter Weg», sagt der Erbe, «doch für die Bahn ist es wohl das Beste.» Noch einmal steigt er in einen Wagen, die Fahrt absolviert er fast schweigend. Hie und da kommentiert er kurz eine der Gestalten, es klingt beinahe wie ein Abschiedsgruß.

Mehr als die halbe Fahrzeit ist vorüber. Erstaunt blicken fabelhaften Gestalten, die aus einer Grottenbahn entflohen scheinen. Andere Figuren zeigen sich nur Hundertstelsekunden, wohl um eine Beschreibung zu vermeiden, weil da Gliedmaßen und dort Köpfe fehlen. Ein Vampir, der Elvis Presley ähnelt, und ein Gerippe werden von einem Riesenmolch garniert. Die Musik schwillt bedrohlich an, zumindest das Skelett am Galgen verfehlt seine gewollte Wirkung nicht. Ob der Sarg, der sich ein paar Zentimeter hebt, Inhaltliches zu bieten hat, gibt den Fahrgästen ein Rätsel auf. Die Herztöne, die aus den Lautsprechern wummern, könnten einen Hinweis darauf geben. Da und dort blitzt noch etwas auf, dann geht es mit einem Ruck wieder an die frische Luft.

Ganzjahres- statt Saisonbetrieb.

Der neue Besitzer der Geisterbahn wohnt ganz in ihrer Nähe beim Blumenrad ums Eck. Stefan Sittler-Koidl betreibt mit seiner Ehefrau zwölf weitere Fahrgeschäfte. Im Prater ist er aufgewachsen, jetzt prägt er die Entwicklung mit. Seit vier Jahren ist er Präsident des Praterverbands, der fast alle Betreiber bündelt. Er plant im Vergnügungspark Investitionen in Millionenhöhe, setzt auf Ganzjahres- statt Saisonbetrieb. Events wie Halloween hat er etabliert, doch auch für das Althergebrachte, sagt er, «fühle ich Verantwortung, die ich in mir trage». 250 Attraktionen von 80 Unternehmen beherbergt der Wurstelprater, aufgeteilt auf zehn Familien. Man kennt sich, nicht alle mögen sich. Hermann Molzer, sagt Sittler-Koidl, habe er stets sehr geschätzt.
Beim Handel um die alte Geisterbahn habe er sich gegen einen Mitbewerber aus der Glücksspielbranche durchgesetzt. Wohl nicht mit Geld allein, eher dank der Begeisterung, mit der er um das Bauwerk rang. Seine Augen leuchten, wenn er von seinen Plänen spricht, die Entwürfe hält er längst in Händen. «Zur schwarzen Kaiserin» soll die Geisterbahn bald heißen. Eine Computerillustration des generalsanierten Äußeren zeigt viel Ähnlichkeit mit dem Original. Dazu gebaut wird ein Abbild der Rotunde – 1873 für die Weltausstellung errichtet und 1937 abgebrannt. Das Konzept erklärt sich mit der Geschichte, die Sittler-Koidl rund um die alte Bahn erdenkt.
Darin soll Ida Molzer, die Geisterbahnerbauerin, wieder auferstehen. Einen Part erhält auch Praterlegende Basilio Calafati, der, rund 100 Jahre früher, den Prater als Schausteller und Gastronom prägte. Alles wird nicht verraten, Details sind sowieso noch offen. Die Liebe solle eine Rolle spielen und natürlich Eifersucht und Tod. Zu Halloween, so plant es Sittler-Koidl, sollen das Schauspiel erstmals Menschen sehen. Ein «Überhammer» soll es werden, schwärmt er. Doch ihm bleibt noch viel zu tun. 200.000 Euro lässt er sich die Renovierung kosten, beginnen soll sie im September. Die Mechanik der alten Geisterbahn soll zur Gänze bleiben. Welches Gespenst noch übernommen wird – das bleibt bis zum Ende ungewiss.

Das Finale der letzten paar Sekunden bietet ein Knochenfeuerwerk. Ein Skelett erschreckt die Menschen gleich nach dem Tor, dann fahren zwei weitere als Geisterfahrer auf sie zu. Von links blitzt ein Gerippe, dann ist die Geisterbahn mit einem Stoß die Fahrgäste nach zwei Minuten und 45 Sekunden wieder los.