Wenn die Kameras verschwinden …tun & lassen

Dass Haiti das ärmste Land ist, ist nur die halbe Wahrheit.

Im Augenblick gebe Haiti eine »dramatische Story« im Fernsehen ab, sagte die in Miami lebende haitianische Schriftstellerin Edwidge Danticat, »aber wenn die Kameras verschwinden, blicken die Menschen wieder weg«. Ähnlich die Journalistin und Haiti-Expertin Amy Wilentz: Die Haitianer seien »nur beliebt, wenn sie sterben«. Tatsächlich lauten die gängigen Klischees, die von dem verarmten und zerstörten karibischen Nachbarland gepflegt werden, »boat people«, »Chaos« und »Voodoo«. Und die Armut ist natürlich eine selbst gemachte, suggerieren die Reportagen.Wir sammeln Stimmen, die die Hintergründe der gesellschaftlichen und ökonomischen Situation beschreiben, die vor der Erdbebenkatastrophe herrschte und über die Bescheid wissen müsste, wer immer über «chaotische Zustände» berichtet. In der unbhängigen amerikanischen Nachrichtensendung «Democracy Now« vom 18. Jänner interviewte Amy Goodman den Menschenrechtsaktivisten Randall Robinson. Anlass: Präsident Obama hatte seine Vorgänger Clinton und George W. Bush zu Koordinatoren der US-Hilfe für Haiti ernannt. «Ich bin gespannt auf Ihren Kommentar», sagte die Moderatorin, und Robinson gab zur Antwort:

«Eigentlich beunruhigt mich das. Nur denke ich, dass es Prioritäten gibt: Derzeit gibt es vielleicht Wichtigeres als die lange Geschichte der US-Politik gegenüber Haiti zu analysieren. Jetzt muss der Fokus auf den Rettungsaktionen liegen. Aber ich hoffe, dass nach dieser Katastrophe die amerikanische Medien sich veranlasst fühlen, einen scharfsinnigeren Blick auf Haiti, auf die Kreativität der haitianischen Gesellschaft, auf ihre Kunst und auf das, was sie ertragen musste, werfen. Dem amerikanischen Volk ist die haitianische Misere als von Haiti selbst gemachte Misere verkauft worden. Das ist eindeutig falsch. Von 1804 bis heute hatten hier äußere Mächte das Sagen. Präsident Bush war 2004 verantwortlich für die Zerschlagung der haitianischen Demokratie und für den Umstand, dass der haitianische Präsident Aristide immer noch in Südafrika weilt. Und Clinton ist für die so genannten Programme der ökonomischen Entwicklung» verantwortlich, die Haiti in ein Land der Billiglohn-Zulieferer für US-Konzerne verwandelt haben, wo die Beschäftigten 38 Cents pro Stunde verdienen, was nicht einmal fürs Mittagessen und für das Busticket ausreicht. Es ist traurig, dass Obama gerade diese beiden Politiker mit solch einer Aufgabe betraut. Das kann doch nur ein falsches Signal sein. Aber darauf sollten wir uns aktuell nicht konzentrieren. Wir sollten uns darauf konzentrieren, Leben zu retten. Ich hoffe aber, dass die amerikanische Medien ihren Mitleids-Refrain von Haiti als «ärmstem Land der westlichen Hemisphäre» mit der Frage verbinden: Warum ist das so? Was unterscheidet Haiti vom Rest der Karibik? Warum sind die anderen Länder der Karibik Middle-income-Länder wie Saint Kitts, das Land, in dem ich lebe? Warum ist gerade Haiti in dieser verzweifelten Lage? Was ist passiert? Und wer hat zu dieser beigetragen? Wer hat die aufeinander folgenden haitianischen Diktaturen bewaffnet? Wir brauchen Medien, die uns über die entwerteten Fähigkeiten des haitianischen Volkes erzählen können.»

Als Gründer und Präsident des Washingtoner Thinktanks «TransAfrica» hatte sich Robinson seit 1977 für das Ende der Apartheid in Südafrika eingesetzt. Durch einen Hungerstreik erreichte er, dass 1994 die USA ihre Aufnahmebedingungen für haitianische Flüchtlinge lockerten. Robinson ist Doktor der Harvard Law School und arbeitete als Berater auf dem Kapitolshügel. Weltbekannt wurde er durch seine Forderung nach Wiedergutmachung für Sklavenarbeit.

Erst recht Schock-Strategie?

Die in Genf ansässige Organisation »Ärzte ohne Grenzen« kritisierte, es gebe »wenig Anzeichen für eine signifikante Verteilung der Hilfe«. Der Sprecher der Organisation Jason Cone bemängelte die falsche Prioritätensetzung der USA. Es gehe den USA bisher mehr um die Sicherung des Flughafens und die Bedürfnisse des Militärs statt um medizinische Hilfe und Ausrüstung. Die kanadische Globalisierungskritikerin Naomi Klein warnte bei einem Vortrag in New York vor einem erneuten »verordneten wirtschaftlichen Schockprogramm« beim Wiederaufbau Haitis. Es müsse genau darauf geachtet werden, dass die Hilfe an Haiti nicht aus an Konditionen gebundenen Krediten besteht.

Wer Naomi Kleins „Die Schock-Strategie“ gelesen hat, wird sich nach dem verheerenden Erdbeben auf Haiti an das zentrale Thema in Kleins Buch erinnern: die Umstrukturierung angeschlagener Staaten nach Milton Friedmans Modell der Chikagoer Schule. Es handelt sich um eine rasch durchgezogene Umwälzung der Ökonomien devastierter Länder im marktradikalen bzw. neoliberalistischen Sinn also mit umfassenden Privatisierungsmaßnahmen und dem massiven Abbau sozialer Strukturen. Dieses Pogramm wurde laut Klein immer wieder gezielt auf Länder angewandt, welche sich in Folge von wirtschaftlichen Crashs, militärischen Niederlagen oder Naturkatastrophen ökonomisch und gesellschaftlich am Boden befanden. Heute erfüllt Haiti diese Kriterien (dagegen ließe sich nur einwenden, dass die «Schock-Strategie» in Haiti schon nach dem Sturz Aristides angewandt worden war und dass die möglichen Prozesse nach der aktuellen Katastrophe nur in einer beschleunigten Fortsetzung des Kurses bestehen könnten).

Naomi Klein untersuchte die Folgen der Tsunami-Katastrophe im Indischen Ozean (2004) und des Hurrikans Katrina (2005). Die Tsunami-Wellen «… spielten die gesamte wunderschöne Küste Unternehmen in die Hände, die dort rasch große Hotelkomplexe bauen wollten, dazu mussten Hunderttausende von Fischern daran gehindert werden, ihre Dörfer dicht am Wasser wiederaufzubauen», schreibt Klein.

Enorme Geldsummen seien aus dem Ausland geflossen, Gesetze seien erlassen worden, und heute thronten anstatt der Fischerhütten riesige Hotelanlage auf den exponiertesten Standorten der betroffenen Küstenregionen.

Was Katrina betrifft: Der kurz zuvor in den USA flächendeckend privatisierte Katastrophenschutz versagte damals kläglich. Schnelle Hilfe erhielt meist nur die privilegierte weiße Oberschicht von New Orleans, die schwarze, mittellose Mehrheit der Einwohner harrte oft wochenlang in Notunterkünften aus. Als das erste Chaos beseitigt war, waren viele der Sozialwohnungen in exponierter Lage bereits abgerissen und die wertvollen Grundstücke an Investoren verkauft worden.

Auf einer Pressekonferenz wurde Naomi Klein gefragt, ob sie diese Entwicklung nun auch in Haiti befürchte. Die Situation sei offen, sagte sie. Entweder die großen Wirtschaftskonzerne reißen sich das zerstörte Land endgültig unter den Nagel oder einer Vernetzung «progressiver» Kräfte gelinge das Kunststück, Voraussetzungen zu schaffen, dass «Haiti sich selbst wieder aufbaut».

Aristide?

Der im Interview genannte Jean Bertrand Aristide, ehemals katholischer Priester und Anhänger der Befreiungstheologie, gehörte in den 80er Jahren zur Widerstandsbewegung gegen den haitianischen Diktator Jean-Claude Duvalier (»Baby Doc«). Nach dessen Sturz wurde Aristide 1990 als Kandidat der Bewegung »Lavalas« bei der ersten freien Wahl des Landes mit großer Mehrheit zum Präsidenten gewählt, doch bereits 1991 durch einen Putsch gestürzt. Obwohl Präsident Clinton eine widersprüchliche Rolle bei diesem Staatsstreich gespielt hatte, intervenierten die USA 1994 und setzten Aristide erneut als Staatschef ein. 1996 gab er die Macht an seinen damaligen Premierminister René Préval ab, bevor er am 7. Februar 2001 in das Präsidentenamt zurückkehrte. Seine neue Amtszeit enttäuschte jedoch viele ehemalige Anhänger. Sie warfen Aristide Korruption und Misswirtschaft vor. Die Protestbewegung gegen die Regierung wurde von Kräften der ehemaligen Duvalier-Diktatur und ihren Todesschwadronen unterwandert und teilweise gelenkt. Als rechtsextreme Bewaffnete im Februar 2004 auf die Hauptstadt Port-au-Prince vorrückten, intervenierten die USA und Frankreich und stürzten Aristide. Während Washington erklärte, der Präsident habe freiwillig abgedankt, beschuldigte dieser die mittlerweile von George W. Bush regierten USA, ihn entführt zu haben. Augenzeugen bestätigten ihn damals: Aristide seien Handschellen angelegt worden.