Lokalmatadorin
Radmila Erceg weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer sich eine Flucht verkraften lässt.
TEXT: UWE MAUCH
FOTO: MARIO LANG
Die Super-8-Kassetten mit den Aufnahmen von ihren beiden Töchtern, ihr Schmuck, das Transistorradio, ihr Diplom von der Universität in Sarajevo. Sie liest Punkt für Punkt von dem kleinen gelben Zettel ab. Radmila Erceg hat ihn im Mai 1992 hastig beschrieben, um in ihrer Wohnung ja nichts zu vergessen.
Zuletzt war ihr kleiner gelber Zettel Teil einer spannenden Ausstellung in der Hauptbücherei Wien. Die Kurator_innen hatten 25 Jahre nach dem Ende des Kriegs im ehemaligen Jugoslawien die persönlichen Erfahrungen von Menschen beleuchtet, die wegen dieses Kriegs ihre Heimat verlassen mussten.
Unbarmherzig.
Ein kleines gelbes Stück Erinnerung! Sofort sind bei ihr die Bilder von damals wieder präsent. «Ein letztes Mal konnte ich noch durch die Frontlinien hindurch, zu unserer Wohnung in Zvornik, am Ufer der Drina», erzählt Frau Erceg in ihrer heutigen Wohnung in Wien, nahe der Donau. «Dabei habe ich mein Leben riskiert. Doch ich wollte die privaten Dinge für mich und meine Familie unbedingt retten.»
Im Mai 1992 schaute die Welt ebenso fassungs- wie tatenlos zu, wie in den Nachfolgerepubliken des Vielvölkerstaats das nationalistische Gift zu wirken begann: Menschen wurden blind vor Hass. Nicht wenige schossen im Namen ihres (katholischen, orthodoxen, muslimischen) Gotts auf ihre Nachbar_innen. Radmila Erceg und ihr Mann hatten bis zum Kriegsausbruch in der großen Fabrik in der nordostbosnischen Stadt Zvornik gearbeitet. Der Krieg beendete von einem Tag auf den anderen das zuvor friedliche Miteinander: «Als Tochter einer serbischstämmigen Familie sollte ich weiterhin mein Gehalt beziehen, mein Mann als Moslem jedoch nicht.» Die Mitarbeiterin der Personalabteilung las es schwarz auf weiß, traute anfangs ihren Augen nicht, wie zwischen die Ethnien Keile getrieben wurden: «Wir alle waren am Anfang in Schockstarre, dachten, dass das schnell wieder aufhören würde. Doch der Hass wurde über Wochen geschürt, und ich musste mitansehen, wie sich zuvor ausgesprochen nette Kolleg_innen radikalisierten. Das war eine riesige Enttäuschung für mich.»
Am Ende blieb nur die Flucht: Mit ihren schulpflichtigen Kindern gelangten ihr Mann und sie – so wie knapp 100.000 Landsleute in jener Zeit – nach Wien: «Wir fuhren mit dem Bus nach Bratislava, und von dort mit dem Zug weiter zum Südbahnhof», erzählt die heute 69-Jährige.
Die ersten Monate mit zwei anderen bosnischen Familien in einem Zimmer des Flüchtlingslagers Traiskirchen waren beengt, erinnert sich Rada, wie sie ihre Freund_innen nennen. «Gleichzeitig lernte ich viele helfende, viele herzliche Menschen in meiner neuen Heimat kennen.»
Unbeschreiblich.
Am Abend konnte ihre Familie wieder das Licht aufdrehen, weil es in Traiskirchen keine Granatwerfer gab. Das ist lange her, doch Menschen wie sie haben diese Erfahrungen bis heute nicht vergessen.
Was sie auch nicht vergessen haben: Dass es sehr lange gedauert hat, bis sie beruflich angemessen Fuß fassen konnten. Die Psychologin erzählt: «Ich habe die ersten vier Jahre als Tellerwäscherin und Putzfrau in einem Seminarhotel gearbeitet.» Ihr Mann, ein ausgebildeter Maschinenbauingenieur, musste zeitgleich nicht angemeldet auf Baustellen sowie als Taxifahrer Geld verdienen.
Ihr kleiner gelber Zettel hatte sie auch daran erinnert, ihr Diplom mitzunehmen. Das offizielle Dokument der philosophischen Fakultät in Sarajevo sollte ihr in Wien letztlich helfen, ihr Studium zu nostrifizieren und langsam wieder in ihren angestammten Beruf zurückzukehren.
Endlich fand Radmila Erceg einen Beruf, der ihrer Qualifikation entsprach: «In der Gesprächsführung mit bosnischen Flüchtlingen.» Weitere acht Jahre sollten jedoch vergehen, bis ihr endlich im Frauenhaus eine unbefristete Anstellung angeboten wurde.
Die fehlenden Versicherungsjahre wirken sich heute negativ auf ihre Pension aus. Um halbwegs über die Runden zu kommen, backt und verkauft die Akademikerin – zur Freude der Gäste – Kuchen in der Vollpension. Gut ist: «Die Arbeit mit anderen Menschen im Ruhestand bereitet mir Freude.»
Unverständlich.
Weniger gut findet Radmila Erceg, wenn ihr Menschen hierzulande den «Balkan-Krieg» erklären wollen: «Manchmal verletzt mich das immer noch. Woher wollen sie so genau wissen, wie es bei uns gewesen ist?»
Manchmal erlaubt sie sich daher, folgende Frage zu stellen: «Was hättest du auf den Zettel geschrieben?» Um dann hinzuzufügen: «Es ist nicht leicht, etwas zu verlassen, was einem gehört, und gleichzeitig zu wissen: Wenn du gehst, bekommst du es nie wieder zurück.»