Eigentlich wollte ich über das Sterben schreiben. Über Sterbehilfe oder assistierten Suizid, wie das der Mann einer Freundin in Kanada gemacht hat aufgrund seiner schweren Erkrankung Multiple Sklerose. Ich wollte mit meiner Freundin darüber skypen. Sie war nicht wirklich bereit dazu. Ich hoffe auf ein anderes Mal und warte ab. Sich aufzulösen, das ist ein subtil verflochtenes, tabuisiertes Thema, mit weitreichenden Konsequenzen und vor allem Prozessen davor, dazwischen und inmitten, das mich unendlich reizt, weil ich so große Angst vor ihm habe. Dem Tod. Dem Sterben. Den Schmerzen. Und nicht nur den physischen. Das Tibetische Totenbuch hatte ich zum ersten Mal, nachdem mein Vater verstarb, gelesen. Ich verstand wenig bis gar nichts. Ein zweites Mal nach dem Tod meiner Mutter. Ich verstand etwas. Ein drittes und viertes Mal las ich es als unabhängige feministische Buddhistin, die ich geworden bin. Ich war tief beeindruckt und erschüttert über die glasklaren Schilderungen chemischer biologischer Vorgänge bei der Auflösung der vier Elemente im Körper und diverser Zeichen des Sterbens.
Zurzeit lese ich ein frisch publiziertes und eigenwillig geschriebenes Buch, eine Art Sachbuch, das aber kein reines Sachbuch ist. Es ist gespickt voll springender Assoziationen, wie ein schwarzer Rabe tausende Krumen aus einem weiten Feld pickt und von einem zum anderen hüpft. Ach der schwarze Rabe. Interessante philosophische, persönliche, wissenschaftliche, historische Aspekte zum Thema Schmerz verarbeitet Lisa Olstein, eine US-amerikanische Lyrikerin, in Weh. Da meine Träume nun aber zwischen Weihnachten und Neujahr ausgesprochen rauhnächtig visionär sind, habe ich beschlossen, einen älteren Text herzunehmen, der bisher nie publiziert wurde. Weil Träume viel mit Sterben zu tun haben. Weil das Unbewusste immer präsent bleibt. Der Text handelt von einem Tagtraum. Die Ebenen verschwimmen. Beides wird real erlebt, das Innen und das Außen. In diesem Traum verarbeite ich literarisch meine weibliche Sehnsucht. Nach unberührter Natur, frischem Quell oder tannenzapfener Luft, nach feuchten, warmen Höhlen, nach Wildheit und Freiheit, nach Ekstase, Entgrenzung und ja doch, da ist sie wieder: die Auflösung. Das Mädchen und der Tod. Das bekannte Pärchen.
Ich glaube, dass Träume gerade dann wichtig sind, wenn viele Türen verschlossen sind und die Lage hoffnungslos scheint. Denn Veränderung fängt nun mal mit Träumen an. Und was hat man eigentlich zu verlieren? Wahrscheinlich weniger, als man gewinnen kann. Aber vielleicht kann das auch nur eine sagen, die erlebt hat, wie ein Traum in Erfüllung gegangen ist.
(Alice Hasters)
Das Gipfeltreffen
Es war kein Tag wie jeder andere. Ich wollte weg. Einfach woanders sein. An mir kroch der Schweiß. Aus vielen Gründen. Er perlte. Ich roch mich selbst. Animalisch. Und geilte mich fast an mir selber auf. Ich setzte mich unter das geöffnete Fenster, sah hinaus in den Park und hörte dem üblichen Geschrei aus dem Kindergarten unten auf der Wiese zu. Die Musik des Innenhofes im Sommer. Ein Stückchen Wiener Innenstadtleben. Erinnerungen an den Gemeindebau. Ein verlässlich zartes Wehen von Hundekot und der honiggleiche Duft der Blüten im Mai. Eine betörende Mischung umweht Wien. Von einem Extrem in das andere. Schön und hässlich. Gemein und fein. Mörderisch und hochgebildet. Niederträchtig und Grüß Gott. Pharisäergleich und wahrheitsliebend. Alles ist da. Ich war im Flow. Ich wollte Erregung. Wollte mich aber auf nichts einlassen. Nur die Lust war da. Weit weg von Verantwortung. Ich driftete langsam immer mehr ab. In der Ferne läutete ein Telefon. Ich wusste nicht mehr, woher der Laut kam. Ich nahm das Klingeln in meinem Kopf wie ein Hindämmern in eine Narkose wahr. Ein mir unbekannter Klang, den das Hirn nicht mehr einordnen kann. Es war die Ordnung in mir, die sich auflöste. Ich hörte eine Männerstimme sagen, ich solle kommen. In die kleine Hütte über dem fließenden Bach. Ach. Ich nehme das fantastische Fluggerät und fahre es hoch. Ich sehe Straßen zwischen den Bergen fließen. Der Verkehr ist heftig. So viele Reisende und alle auf dem Weg zum Gipfel. Aber immer in Abstand und Distanz und an der Stelle, wo der Gletscher wie ein Clown seine Zunge rausstreckt, da stehen sie alle geballt und starren. Der Gletscher macht, was er will, weit hinab. Er weint. Er löst sich auf. Er rinnt um sein Leben. Dort wo der Landschaftskörper seine Spitze in den Himmel schießt, hinauf ins Ungewisse, dort wo ich einst als Kind auf weiten, weißen Schneepisten dahinglitt, fast rauschartig, fast flog ich, abgehoben, nie mehr zurück ins Tal müssen in die Tiefe zu den Menschen und deren Abgründen, da oben war ich glücklich. Da will ich nicht mehr weg. Ich verschmolz, eine Zeit lang, wanderte enge Wege zu der Hütte. Die knarrende Tür stand offen. Ich flog hinein Libellen-artig. Ließ mich sanft nieder. Genoss die Hitze zwischen seinen Bergen und das kühle Nass seiner haarigen Gräser. Kurz vor der stacheligen Grenze landete ich auf dem letzten ebenen Stück Landschaft, bevor mich das Massiv überwältigte. Meine Fingerkuppen tasteten sein Gebirge ab. Mal weich. Mal fest. Ich wusste nicht das Landschaft befriedigend und so sinnlich sein konnte. Er sagte, der Tunnel sei nicht weit weg und begann mich zu reizen. Mein Flügelschlag eskalierte. Er wollte mich besteigen. Die Wegzeit sechs Stunden und dreißig Minuten. Der ganze Tag für uns. Das Panorama fesselte mich durch seine außergewöhnlichen Formationen. Die Zeit stand still. Ich war alterslos. Ich war geschlechtslos. Ich war herkunftsfrei. Ich hatte kein Label. Ich küsste das warme Rot und begann mich in ihn zu verlieben. Ich fiel und fiel. Der Wasserfall hatte eine Höhe von hundertneunundfünfzig Metern. Ich empfand die rauschende Energie als Quelle der Lust. Kristallenes Plätschern auf meine Haut. Öffnen aller Blüten. Paradiesisches Beben auf meiner Haut. Ich labte mich an der Erquickung des Augenblicks. Diese Wanderung brachte meine Sinnlichkeit ins Gleichgewicht. Die Beständigkeit des rhythmischen Bewegens pflanzte mich wieder in die Erde und brachte mich massiv in Schwung. Die umliegenden Berge spiegelten sich in unseren Augen wie in unberührten Almseen. O kann Sex schön sein. Himmelherrgottsakra. Das Gipfeltreffen der Alpenflora, Enzian und Alpenrose. Ich roch seine blühende Märchenwelt und legte meine Winterstarre ab. Der Duft der Steine, der Tannen und des Mooses ließ mich explodieren. Das Gesetz der Natur fuhr in meinen Körper. Die Fauna liebkoste mich. Jetzt. Ich konnte die Stille hören und zog uns raus aus unserer nassen Hütte. In der Dämmerung machte ich mich auf den Weg runter ins Dorf, um eine leise Ahnung zu erhaschen. Wieder stand die Zeit still. Wieder war ich zeitlos. Wieder war ich niemand. Wie angenehm. Was für eine Erleichterung. Ja jetzt war ich wieder zuhause. Hatte mich wieder tausendfach verliebt. Das Kindergeschrei rückte näher und näher. Überlagerte das Bergpanorama. Es ersetzte die Bergrose durch das Gänseblümchen. Ich sah den Park, das Fenster, die Katze und, aus dem Nebel kommend, klickte auf dem Bildschirm Google Earth weg und fuhr meinen Apple runter. Setzte mich rauf auf die Fensterbank. Das Kätzchen schnurrte neben mir, meine kleine Karthäuserin. Ich taufte sie auf Orange. Weil ihre Augen so orange waren. Sie schmiegte sich an mich, kokettierte, buhlte, streifte um mich herum. Ich sah kurz zum Fenster hinaus. Durch die grünen Bäume erhaschte ich einen Blick auf das gegenüberliegende Fenster. Er saß auf dem Fensterbrett. Ich wusste, er hieß Andrea. War erst unlängst eingezogen. Sein Namensschild stand auf der Türe. Ich lächelte. Die Zeit stand still. Nicht nur Orange war auf der Pirsch. Die Vögel zwitscherten fröhlich. Ich wusste genau, wohin die Reise diesmal ging.
Epilog:
Mir träumte übrigens immer wieder, mir wüchse ein Bart. Ich war gar nicht unglücklich darüber als Frau, im Traum. Ich erlebte es als Faktum, nicht als Belastung oder gar Makel. In keiner Weise. Irgendwie fand ich das beruhigend. So unaufgeregt. Vor zwei Tagen allerdings träumte ich von einem buddhistischen Retreat, auf dem mir einer unserer Lehrer*innen sagte, in diesem neuen Jahr fände der 3. Weltkrieg statt. Ich versank in Trauer. Das Gefühl war stark. Seltsamerweise machte mir das aber keine Angst. Ich akzeptierte diese grauenvolle Tatsache. Vielleicht eine Art Exerzitium auf den Tod. Who the fuck knows! «Der Tod ist mein Berater, der auf meiner linken Schulter sitzt». Das ist ein metaphysisches Bild des Schriftstellers Carlos Castaneda aus seinem Buch Reise nach Ixtlan und ich finde es sehr nützlich. Der Rabe sitzt immer dicht neben uns. Das Bild des Vogels ist eine altbekannte Metapher. Wir sollten beginnen, mit ihm öfter zu reden. Vielleicht würde sich einiges erübrigen, wenn wir beginnen, ihm zuzuhören. Allein die Tatsache, dass wir endlich sind. Vergänglich. Zu jeder Zeit. Nicht nur als Alte. Gerade die jetzige Situation weltweit bringt uns alle auf dieser Erde verdammt direkt zu des Pudels Kern. Das Leben bleibt lebensgefährlich. Menschen bleiben unberechenbar. Das Unvorhersehbare bleibt unvorhersehbar. Chaos und Kontrolle.
«Das Gehirn ist eine Vergleiche anstellende Maschine. Alles existiert in der Zeit. Alles erzeugt seine eigene Zeitachse.» (Lisa Olstein in Weh)