Die Wohnungsforschung hat als junges wissenschaftliches Feld hohe politische Ansprüche. Lisa Vollmer von der Bauhaus-Universität Weimar spricht im Interview über ein Recht auf Wohnen, das Zauberwort Enteignung und die Wohnungsfragen, die sich die Immobilienlobby stellt.
Interview: Lisa Bolyos, Foto: Kornelia Kugler
Die Wohnungsforschung ist ein ganz neues Feld. Was unterscheidet sie von der Stadtforschung?
Die Wohnungsforschung, die im internationalen Raum als Housing Studies schon lange etabliert ist, versteht sich unter anderem als Teil der Stadtforschung, benennt ihren Gegenstand aber kleiner und macht damit vielleicht auch klarer, wo der Anspruch der politischen Intervention liegt. Sie ist wie die Stadtforschung interdisziplinär ausgerichtet: Soziologie, Geografie, Planungswissenschaften, Architektur, Geschichte, Ökonomie spielen alle eine Rolle, um den Forschungsgegenstand, das Wohnen oder die Wohnraumversorgung, umfassend betrachten zu können.
In Österreich wurde gerade ein Urteil im BUWOG-Prozess gesprochen. Gibt es Forschung zu Schattenwirtschaft, Bestechung und Korruption am Immobilienmarkt, anders gefragt: Ist Kriminalsoziologie Teil der Wohnungsforschung?
Interessanter Hinweis! Mir ist aber keine Forschung dazu bekannt.
In dem ersten Band der Reihe «Interdisziplinäre Wohnungsforschung» werden «Ressourcen für ein Recht auf Wohnen» diskutiert: welche Ressourcen und welches Recht?
Mit Ressourcen meinen wir konkret die Felder Bodenpolitik, Wohnungswirtschaft und gemeinschaftlicher Wohnungsbau, die wir daraufhin untersuchen, wie ein Recht auf Wohnen eingelöst werden kann. Unter diesem Recht auf Wohnen verstehen wir nicht nur legalistisch ein verfassungsmäßiges Recht, das es in der deutschen Verfassung nicht, in diversen Landesverfassungen wie Berlin oder Bayern aber schon gibt – und das trotzdem nicht heißt, dass alle Menschen einen angemessenen Wohnraum oder auch nur ein Anrecht auf eine Unterbringung haben. Wir meinen damit vielmehr ein umfassendes Menschenrecht, weil Wohnen ein Grundbedürfnis ist, so wie Wasser, Luft, Essen, Sicherheit. Es reicht nicht, so ein Recht in der Verfassung oder im Grundgesetz zu verankern und dann nicht umzusetzen. Es geht, so argumentiert auch Florian Rödl in seinem Text Recht am Boden und Recht auf Wohnen im bürgerlichen Sozialstaat, unter anderem darum, Gesetze zu machen.
Wenn es nach Ihnen geht, was sind die drei dringlichsten Fragen der Wohnungsforschung?
Einmal gilt es noch weiter herauszufinden, wie die Umstrukturierung der Wohnungspolitik seit den 1970er-Jahren – was man so allgemein als Neoliberalisierung fasst – auf welchen Ebenen gewirkt hat. Anfang der 2000er-Jahre gab es eine Finanzmarktliberalisierung, aber welchen durchgreifenden Effekt die auf Wohnungspolitik und Wohnraumversorgung hatte, darüber wird zu wenig gesprochen.
Ein weiteres Feld, das mir am Herzen liegt, ist es, die ökologische Wohnungsfrage mit der sozialen zu verbinden. Das passiert sehr wenig und wenn dann sehr technisch: Man müsse CO2-neutral bauen oder dämmen und dabei am besten niemand verdrängen. Es wird aber überhaupt nicht über die zentrale Frage der Stadt-Land-Verhältnisse gesprochen. Durch die infrastrukturelle Unterversorgung auf dem Land ziehen Leute in die Stadt, dadurch muss neu gebaut werden und die Mieten steigen.
Drittens, und das ist mein eigenes Forschungsinteresse: Inwiefern können soziale Bewegungen oder zivilgesellschaftliche Akteure im Allgemeinen Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse nehmen? Da tut sich gerade sehr viel.
Beim Durchsehen der ersten beiden Bände, fällt auf, wie unmigrantisch die Wohnungsforschung ist. Dabei sind doch gerade Miet- und Stadtbewegungen wie Kotti & Co oder Bizim Kiez in Berlin stark migrantisch getragen; muss noch Zeit vergehen, bis die Kinder dieser Bewegungen in der Stadtforschung ankommen?
Einerseits denke ich, dass der Eindruck nicht ganz richtig ist; ich würde nicht sagen, dass die mietenpolitische Bewegung stark migrantisch geprägt ist – wenn auch möglicherweise mehr als so manche andere soziale Bewegung. Andererseits würde ich das Fehlen migrantischer Wohungsforscher_innen vor allem auf das absolute Scheitern des deutschen Bildungssystems zurückführen. Es gibt total wenige Menschen mit Migrationserfahrung gibt, die überhaupt studieren, und dann noch Sozialwissenschaften.
«Wohnungsfrage» – da denkt man an den Altbau, den man vor dem Zugriff des Kapitals schützen will. Wie stellt sich die Wohnungsfrage außerhalb der Metropolen?
Im ländlichen Raum unterscheiden wir zwischen strukturschwachen und -starken Gegenden. Es gibt ländliche Räume, die sehr strukturstark sind und massive Mietprobleme haben und wo es für Familien fast unmöglich ist, sich Eigentum zu erwerben. Gleichzeitig gibt es die sehr abgehängten Regionen, wo es zwar auch und vor allem im untersten Segment Bezahlbarkeitsprobleme gibt, oft geht es aber um die Wohnqualität. Hier wohnen viele ältere Leute, und die Wohnungen sind oft überhaupt nicht darauf ausgerichtet, sie sind nicht barrierefrei, nicht klein genug usw. Was nun aber alle vereint – Berlin, Wien oder Thüringen irgendwo auf dem Land – ist, dass der Staat die Steuerungsressourcen einfach aus der Hand gegeben hat. Dort, wo es keine oder nur noch wenige kommunale Wohnungsunternehmen gibt, ist es für die Kommunen schwierig, auf die Entwicklung des Wohnungsmarktes Einfluss zu nehmen.
Wien wird in wohnpolitischen Debatten gerne verklärt als rote Stadt des Gemeindebaus und der niedrigen Mieten. Tatsächlich ist es in Wien sehr schwer geworden, eine leistbare Wohnung zu finden.
Hier an der Bauhaus-Universität Weimar war mein Vorgänger der Wiener Stadt- und Wohnungsforscher Justin Kadi; wir schreiben gerade an einem gemeinsamen Artikel für die Zeitschrift European Urban and Regional Studies. Dabei haben wir festgestellt, dass Wien Berlin bei der Mietsteigerungsquote schlägt– und das muss man schaffen, denn Berlin ist deutschlandweit führend. Aber ich kenne diese Fetischisierung des Roten Wiens und des Wiener Gemeindebaus sehr gut, die begegnet mir auch in politischen Debatten immer wieder – und ich argumentiere nicht immer dagegen, weil ich glaube, dass es hilfreich sein kann, wenn man wo hinzeigen kann, wo es besser ist.
Der Berliner Bezirksstadtrat Florian Schmidt stellt im Gespräch mit Inga Jensen in dem Band «Wohnungsfragen ohne Ende?!» die rhetorische Frage: «Soll Wohnraum überhaupt ein Warengut am freien Markt sein?» Wieso eigentlich nicht, wenn Brot doch auch eine Ware ist?
Wir definieren die Wohnungsfrage als den Widerspruch zwischen Wohnen als Ware und Wohnen als Grundbedürfnis. Die Befriedigung von einem Grundbedürfnis und der Umstand, dass damit Geld gemacht werden soll, widerspricht sich teilweise: Man sieht etwa, dass die Wohnbedürfnisse von unteren Einkommensschichten, wenn man das dem Markt überlässt, nicht bedient werden, weil es eben nicht lukrativ ist.
Wohnraum erfüllt nicht die klassischen Merkmale einer Ware. Die Produktionskosten sind unglaublich hoch, die Investitionszyklen sehr lang, im Gegensatz zum Beispiel zu Brot oder einem Toaster. Die Ware Wohnraum ist immobil, ich kann Boden nicht endlos reproduzieren – anders als Brot. Durch diese Immobilität gibt es bestimmte Verteilungsmechanismen, die es bei anderen Waren nicht gibt: Es gibt keinen diskriminierten Zugang zu einem Toaster, jeder kann sich einen Toaster kaufen, wohingegen bei der Vergabe einer Wohnung sehr stark diskriminiert wird – ethnische Zugehörigkeit, Nachname, Hautfarbe, viele Kinder. Deshalb ist die politische Diskussion darüber, ob Wohnraum und Boden überhaupt eine Ware sein sollten, so relevant.
Was würde es bedeuten, wenn Wohnraum keine Ware wäre?
Niemand würde damit Geld verdienen. Wohnraum würde bereitgestellt, aber der Profit damit beschränkt, wenn nicht gar abgeschafft. In Deutschland gab es bis 1990 die Wohnungsgemeinnützigkeit, die zumindest einen Teil der Wohnungsmarktakteure reguliert hat. Alles, was an Profit gemacht wurde, musste reinvestiert werden in den Bestand oder in den Neubau. Seitdem das abgeschafft wurde, bauen die Genossenschaften nicht mehr. Wenn Wohnen keine Ware mehr ist, sind nicht alle Probleme behoben – etwa die Bedarfsgerechtigkeit von Wohnraum –, aber das Problem der Bezahlbarkeit wäre Geschichte.
Wieso ist es so schwierig, der Diskriminierung am Wohnungsmarkt Einhalt zu gebieten?
Rassistische Handlungsweisen sind sehr weit verbreitet. Den Nachweis zu führen, dass man von potenziellen Vermieter_innen rassistisch diskriminiert wurde, ist sehr schwierig. Das trifft nicht nur auf private Vermieter_innen zu, sondern auch auf den Staat; in Deutschland hatten bis in die 1970er-Jahre hinein Menschen mit Migrationshintergrund, also auch die ganzen Gastarbeiter_innen, keinen Zugang zum sozialen Wohnungsbau. Beim kommunalen Eigentum ist es aber zumindest möglich, politisch Druck auszuüben, damit sich etwas ändert.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten der Rekommunalisierung von Wohnraum. Aber wie Florian Rödl in dem bereits erwähnten Text es treffend beschreibt: Immer wenn es um einen, wenn auch gesetzlich gedeckten, Eingriff ins Wohneigentum geht, schreit die Immobilienlobby laut «Enteignung!».
Die Immobilienwirtschaft hat insgesamt einen hohen Einfluss auf Wohnungspolitik. Während die Mietpreisbremse als Gesetz geschrieben wurde, waren die Vertreter der Immobilienwirtschaft mehrmals im Bundeskanzleramt. 2018 hat der Bundesbauminister Horst Seehofer einen Wohngipfel veranstaltet, zu dem zwei Vertreterinnen von Mieterseite eingeladen waren, alle anderen waren von der Bauwirtschaft; die diskutieren dann politisch, wie man die Wohnungsfrage beeinflusst.
Über das Thema Enteignung wird dabei sehr aufgeregt debattiert. Der Begriff ist in Deutschland doppelt negativ konnotiert – die Enteignung der jüdischen Bevölkerung im NS, aber auch die Enteignungen in der DDR. Enteignung ist aber ein ganz normaler Artikel im Grundgesetz und findet ständig statt: um Autobahnen zu bauen, Kohle abzubauen und all diese wunderbaren Dinge, werden ständig Leute enteignet. Enteignet wird in Deutschland im Ausgleich zum Marktpreis, also zu relativ hohen Preisen.
Genau wie beim städtebauliche Instrument des Vorkaufsrechts, dabei wird zum Marktpreis an die Stadt oder auch an Dritte verkauft. Oft sind das Gebäude, die früher im Eigentum der Stadt waren, billig verkauft wurden und jetzt um ein Vielfaches zurückgekauft werden. Das kann man kritisieren, aber ich halte es doch für eine Priorität, den öffentlichen Bestand auszubauen.
Die Kampagne «Deutsche Wohnen enteignen» fordert die Rekommunalisierung von rund 200.000 privatisierten Wohnungen. Wenn das zum Marktpreis passiert, kostet das sehr viel Geld.
Die Kampagne trägt zwar «enteignen» im Namen, bezieht sich aber nicht auf Artikel 14 im Grundgesetz, die Enteignung, sondern auf Artikel 15, die Vergesellschaftung. Dieser Artikel wurde noch nie angewendet, und es ist nicht definiert, zu welchen Kosten vergesellschaftet wird. Das Land Berlin geht davon aus, dass das zum Marktpreis passieren muss, die Kampagne macht hingegen eigene Berechnungen auf, die sich am Verkehrswert orientieren, am 10-fachen der Jahresmieteinnahmen. Dabei kommt man immer noch auf Milliardenbeträge, aber das Schöne an Investitionen im Wohnraum ist ja, dass sie sich über die Mieteinnahmen relativ sicher amortisieren.
Nach fast einem Jahr ist jetzt die Prüfung durch das Land Berlin abgeschlossen und bestätigt, dass die Vergesellschaftung rechtlich möglich ist. Ende Februar beginnt die zweite Sammelphase im Volksentscheid: Die erste Stufe war erfolgreich, und jetzt müssen von ungefähr 200.000 Berliner_innen die Unterschriften gesammelt werden, damit die Vergesellschaftung überhaupt zur Wahl gestellt werden kann.
Wie geht’s der Deutsche Wohnen selbst?
Die hatte zwar schon den einen oder anderen Aktieneinknick, wenn die Kampagne Erfolge hatte, generell ist sie aber sehr gut durch die Coronakrise gekommen; eigentlich ein Wunder – alle reden davon, dass es Mietausfälle gibt, aber die Kurse steigen.
Mieterin zu sein ist sehr anstrengend geworden. Man muss viel individuell erstreiten oder abwehren. Wofür lohnt es sich, als Mieterin zu kämpfen?
Die Frage, ob es sich lohnt, stellt sich für viele Mieter_innen gar nicht; meistens geht es vielmehr um eine unmittelbare Bedrohung, eine existenzielle Not. Dahinter steht die Angst, sein Zuhause durch Zwangsräumung zu verlieren, auf der Straße zu landen, andere Dinge nicht mehr bezahlen zu können, weil die Miete so hoch ist, Nachbarschaft und Netzwerke zu verlieren, wenn man wegziehen muss.
Man soll natürlich einerseits die individuelle Ebene ausreizen, juristisch vorgehen, den Vermieter zu Tode nerven; aber wichtig ist auch, den strukturellen Schritt darüber hinaus zu gehen. Welche Mechanismen liegen dahinter? Geht es anderen Leuten auch so wie mir? Wie lässt sich das auf politischer, auf institutioneller Ebene ändern? Je dynamischer die mietenpolitische Bewegung ist, desto einfacher wird es für neue Initiativen, etwas zu erreichen. Und umso einfacher wird es für einzelne, das politische Problem nicht nur als individuelles wahrzunehmen.
Lisa Vollmer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für europäische Urbanistik an der Bauhaus-Universität Weimar. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Wohnungsforschung und soziale Bewegungsforschung. Gemeinsam mit Barbara Schönig gibt sie im transcript-Verlag eine Reihe zur Interdisziplinären Wohnungsforschung heraus.
Barbara Schönig / Lisa Vollmer (Hg.)
«Wohnungsfragen ohne Ende?! Ressourcen für eine soziale Wohnraumversorgung»
transcript 2020, 233 Seiten, 29 Euro
Sebastian Schipper / Lisa Vollmer (Hg.)
«Wohnungsforschung. Ein Reader»
transcript 2020, 469 Seiten, 25 Euro
Philipp M. Metzger: «Wohnkonzerne enteignen! Wie Deutsche Wohnen & Co ein Grundbedürfnis zu Profit machen» erscheint im März bei Mandelbaum und steht dann als Buchgeschenk zum Abschluss eines Augustin-Abos zur Wahl.