«Wer könnten wir werden?»Artistin

Katharina Mückstein im Gespräch über ihren neuen Film L’ANIMALE

Am 16. März kommt Katharina Mücksteins neuer Spielfilm L’ANIMALE in die österreichischen Kinos. Unmittelbar vor ihrer Abreise zur Weltpremiere auf der Berlinale hat Samuel Stuhlpfarrer die Filmemacherin getroffen. Ein Gespräch über Bewusstwerdungsprozesse, Geschlechtergerechtigkeit und den herzkranken Riesen Filmbranche.

Fotos: Christopher Glanzl

L’ANIMALE erzählt die Geschichte von Mati, die vor der Matura steht, fester Bestandteil einer rauen Burschenclique ist und im Verlauf des Films vor ganz grundlegende Fragen gestellt wird. Das klingt nach einem klassischen Coming-of-Age-Motiv. Du selbst hast L’ANIMALE mehrfach als Coming-of-Awareness-Film bezeichnet. Was meint der Begriff für dich?

In L’ANIMALE geht es um Identität und um Bewusstwerdungsprozesse. Mati trägt ein widerständiges Gefühl in sich, das noch keine Form gefunden hat. Sie weiß darüber, dass sie da, wo sie ist, nicht bleiben kann und sich weiterentwickeln muss. Das erfüllt sie mit Angst. Zur gleichen Zeit hat sie aber eine sehr starke Intuition dafür, dass es unausweichlich ist. Das ist ein Thema, das uns vielleicht erstmals im Zuge des Erwachsenwerdens betrifft. Die Fragen, wie authentisch können wir sein und wer könnten wir werden, begleiten uns aber – zum Glück! – ein Leben lang. Man kann das Alte und Gewohnte, wenn man sich traut, immer wieder in Frage stellen. Das ist die Utopie von L’ANIMALE. Die Utopie von einem Menschen, der den Mut findet, sich zu erneuern.

Der Film ist sehr penibel gearbeitet. Wie akribisch hast du dich auf diese

Produktion vorbereitet?


Die allergrößte Präzision ist aus meiner Sicht schon in der Arbeit am Drehbuch gefordert. Man darf nicht zu früh aufhören in der Hoffnung, dass alles schon irgendwie passen wird. Danach geht es eigentlich darum, das detailgenau umzusetzen, was davor schon im Buch erarbeitet worden ist. Und ja, dabei bin ich dann genau, vielleicht auch streng, aber das ist mir wichtig. Wenn man alle paar Jahre einen Film macht, der im Grunde genommen durch Förderungen, also von der öffentlichen Hand finanziert wird, hat man auch eine Verantwortung, sorgsam damit umzugehen. Es macht mir eigentlich auch eine ziemliche Freude, wenn ich dann die passende Tapete oder das richtige Kleidungsstück aussuchen kann. Das ist schon ein Geschenk.

Nicht nur in den Außenszenen dominiert die Farbe Grün. Wie wichtig war dir das Farbkonzept des Films?

Ich hatte von Anfang an die Absicht, darüber auch so etwas wie Natürlichkeit zu erzählen. Aus einer psychoanalytischen Perspektive steht dieses Grün für das Intuitive in uns, etwas das bedrohlich ist, worauf wir aber auch immer wieder

Sehnsüchte projizieren.


Deine Protagonisten entstammen mit Ausnahme der etwas älteren Carla, mit der sich Mati anfreundet, alle einer eher kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Schicht. Ist dir dieses Milieu vertraut?


Meine Eltern waren in ihren Familien die ersten Akademiker und konnten in den 1990er-Jahren Flugreisen unternehmen. In der Zeit bin ich mit dem Gefühl aufgewachsen, dass wir immer nur noch wohlhabender werden können. Irgendwann, dachte ich mir, würden wir dann nach Disneyworld auf Urlaub fahren. Das heißt, einiges entspringt ganz

sicher meiner eigenen Erfahrung als Jugendliche, die am Land aufgewachsen ist. Milieuauthentizität ist mir aber generell weniger wichtig als Authentizität in den Gefühlen. Ich glaube, dass das viel mehr erzählt, und ich mag das auch, so eine artifizielle Filmwelt herzustellen.


In dieser Welt gibt es keine Handys und die Motorräder sind alle vom selben Modell.

Das ist sehr aus der Zeit genommen, ja. Aber so etwas wie «Klasse» wird dann eben über anderes verhandelt als über Aussehen oder darüber, welches Auto man fährt.

Matis eigene Paradigmen verändern sich erst, als ihr ihr bester Freund Sebi eröffnet, dass er eine Beziehung mit ihr eingehen will. Den sexuellen Übergriff auf ein junges Mädchen durch einen ihrer Freunde nimmt sie hin. Sie schlägt sich auf die Seite ihres Kumpels, anstatt sich mit dem Opfer zu solidarisieren.

Ich habe ja selbst die letzten 20 Jahre in sehr männerdominierten Bereichen verbracht. Daher weiß ich, dass die Verlockung, sich mit den Mächtigen und Privilegierten, und das sind nun mal oft Männer, zu solidarisieren, sehr stark ist. Gerade, wenn man nur eine von wenigen Frauen in solchen Sphären ist. Deshalb war es mir auch ganz wichtig, die Figur der Mati so zu schreiben. Frauen, die so agieren, sind zwar Opfer eines Systems, sie machen sich aber auch selbst mitschuldig.

Ganz ähnliche Mechanismen haben sich auch in der Filmbranche im Zuge der #MeToo-Debatte beobachten lassen.

Dazu muss man sagen, dass die Filmbranche generell nicht besonders progressiv ist. Das sieht man nicht nur an der #MeToo-Debatte. Da herrschen teilweise Strukturen wie in den 1950er-Jahren vor – mit starren Hierarchien und einer krassen Geschlechterordnung. Es hat ja auch Jahre gebraucht, um in der Branche eine gewisse Sensibilität für die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern zu etablieren. Jetzt gibt es erstmals ein Anreiz-Model beim Österreichischen Filminstitut, das Produktionsfirmen, die zumindest im Team eine Parität zwischen den Geschlechtern erreichen, finanziell profitieren lässt.

Die aktuelle Bundesregierung steht auch nicht unbedingt im Verdacht, den Kampf um eine geschlechtergerechte Verteilung von Budgets und Produktionsmöglichkeiten voranzutreiben.

Die Hoffnung ist, dass sich das, was es jetzt gibt, über diese Regierungsperiode hinweg zumindest halten lässt. Man darf dabei nicht vergessen, dass es ja auch in der Branche selbst eine gewisse Spaltung gibt. Film ist ja sowohl Unterhaltungsindustrie als auch Kunstform. Diejenigen, die sich in der Unterhaltungsindustrie zuhause sehen, identifizieren sich automatisch mit dem bestehenden System und denen, die an der Macht sind. Und die allermeisten Leute haben Angst, die Hand zu beißen, die sie füttert. Diejenigen, die sich als Kunstschaffende verstehen, haben natürlich ein riesiges Problem mit dem, was sich gerade tut.

Unter dem Label #KlappeAuf haben sich zuletzt mehrere hundert Filmschaffende aus allen Sektoren, darunter auch du, gegen die Bundesregierung gestellt. Anstatt die ÖVP aber als Teil des Skandals zu sehen, appelliert der Aufruf an die Kanzlerpartei, die Arbeit mit den Rechtsextremen einzustellen. Das ist absurd. Niemand kann ernsthaft behaupten, die ÖVP hätte nicht gewusst, worauf sie sich bei der FPÖ einlässt.


Für mich ist es sehr bezeichnend, dass dieser Aufruf so spät gekommen ist und dass es so schwer gewesen ist, einen Weg da hin zu finden. Und ich finde den Aufruf auch insofern in Ordnung, als er Wirklichkeit abbildet. Es zeigt sich darin eben auch, wie wir uns als Gesellschaft in den letzten 15 Jahren verändert haben und was wir mittlerweile als Normalität empfinden. Es werden Dinge gesagt oder getan, ohne dass sich irgendjemand darüber aufregt, und damit meine ich jetzt gar nicht das vordergründig Skandalöse, sondern den subtilen Umbau unserer Gesellschaft. Man darf auch nicht vergessen, dass die jetzige Regierung im europäischen Mainstream liegt. Im Jahr 2000 war Schwarz-Blau isoliert.

Der Aufruf wurde ja schon bei der Verleihung des Österreichischen Filmpreises im Jänner verlesen, und ich habe diese Momente mit dem Handy gefilmt. Wie ich mich da also durch den Saal gedreht habe, um die Standing Ovations aufzunehmen, habe ich auch gesehen, wie viele Menschen sitzen geblieben sind. Das waren nicht wenige.

Das passt auch ganz gut zu dem krisenhaften Bild, welches das Kino insgesamt gerade abgibt, nicht?

Das ist etwas, was ich auch immer wieder sage: Wie können wir es zulassen, dass wir in Streaming-Diensten wie Net­flix oder Amazon progressivere Inhalte sehen als im europäischen Arthouse? Das ist völlig absurd, aber daran sieht man eben, was für ein herzkranker Riese diese Branche ist. Das ist schon alles sehr spätkapitalistisch. Anstatt zu überlegen, wie sich etwas entwickeln kann, setzt man stur auf System- und Selbsterhalt.

Auf Systemerhalt setzt im Film auch Matis Vater Paul, der sich seine Homosexualität nicht eingestehen kann. Das wirft die Frage auf, welche emanzipatorischen Möglichkeiten dem oder der Einzelnen bleiben und wo die Limitierungen durch ein Äußeres, die Gesellschaft, beginnen?


Für mich sind das Wahrheiten, die beide nebeneinander existieren. Das ist keine Schwarz-Weiß-Angelegenheit. In der Zeichnung der Erwachsenen ging es mir aber auch darum, Respekt davor zu zeigen, dass man zu neuen Erkenntnissen kommen kann und dem trotzdem nicht gleich Taten folgen lässt. Vielleicht später, vielleicht gar nicht. Wir werden es nie wissen.

Ob sich Mati emanzipiert oder an den mächtigen gesellschaftlichen Umständen scheitern wird, bleibt dagegen offen. Am Ende überwiegt die Betonung der Möglichkeiten. «Zweifle. Aber hab keine Angst. Brenne. Und ergib dich nicht» – das gibst du dem Publikum mit auf den Weg.


Ich habe im Drehbuchprozess auch mit dieser Frage gerungen. Ich wollte weder ein Ende schreiben, das total fatalistisch ist, noch hätte ich ein vollkommen naives haben wollen. Eines, in dem sich alle befreien und unabhängig von allen Umständen ihre Leben frei gestalten können. Das stimmt eben nicht. Das ist nicht das, wo wir als Gesellschaft stehen.

Aber ich bin eben auch die Tochter einer Psychotherapeutin. Daher kommt es vielleicht, dass dieser Film am Ende stärker appelliert. Ich bin einfach davon überzeugt, dass man die Eigenverantwortung hat, so sehr mit sich selbst im Klaren zu sein, dass man andere nicht schlecht behandelt. Man sollte zumindest versuchen, wenigstens kein Arschloch zu sein.