Rassismus und Diversität in der Musik, Teil zwei
In der als Klassik bekannten Musikbranche sind hauptsächlich weiße Personen aktiv. Welche Rolle strukturelle Diskriminierung spielt und was sich ändern sollte.
TEXT: RUTH WEISMANN
FOTO: JANA MADZIGON
Die europäische klassische Musik ist international bekannt. Darauf setzt auch die österreichische Tourismuswirtschaft, wie man u. a. an den Menschentrauben vor Mozarts Geburtshaus in Salzburg beobachten kann. Und wenn das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker übertragen wird, schauen Menschen aus 92 Ländern zu.
Jedoch: Schwarze Musiker_innen und People of Color sieht man an den Notenpulten der Orchester und den Bühnen der Opernhäuser wenige bis gar keine. Schon alleine aus Respekt vor der Musik selbst müsse es aber Diversität geben, ist der österreichische Geiger Robert Olisa Nzekwu überzeugt – Diversität bei den Komponist_innen, den Musiker_innen und beim Publikum. Denn Klassik, so sagt er, sei für alle da.
Beruf und Berufung.
Robert Olisa Nzekwu hat jahrelang für das Radio Symphonie Orchester in Wien gearbeitet, hat in unterschiedlichen Ensembles Kammermusik und zeitgenössische Musik gespielt und ist mittlerweile Teil des in Wien angesiedelten Alliance Quartett. Er ist auch in der Filmmusikszene aktiv und komponiert. Einerseits hat er den typischen Werdegang eines klassischen Musikers durchlaufen: musikalische Früherziehung, Geigenunterricht, Musikgymnasium und schließlich erfolgreiches Konzertfach-Studium an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) samt Studienaufenthalten im Ausland. Untypisch ist: Seine Eltern sind keine Musiker_innen oder der Branche besonders nahe. «Meine Mutter hat uns einfach nur die Möglichkeit gegeben, dass wir Geschwister alle ein Instrument lernen. Aber es war freiwillig und spielerisch», erzählt Nzekwu beim Gespräch im Wiener Stadtpark.
«Der Zugang zum klassischen Musikberuf ist voraussetzungsvoll», sagt die Leiterin des Instituts für Musiksoziologie an der mdw, Rosa Reitsamer dem Augustin im Interview via E-Mail. «Dass Kinder diese Möglichkeiten erhalten, hängt mit der Klassenlage der Eltern zusammen und ihrer Bereitschaft, Geld, Zeit und Emotionen in die musikalische Ausbildung ihrer Kinder zu investieren», so Reitsamer weiter. «Und es sind vor allem Familien der weißen Mittelschichten, die es wichtig finden, dass ihre Kinder ein klassisches Musikinstrument erlernen – und nicht selten sind diese Eltern selbst Amateur- oder professionelle Musiker_innen.»
Auch Nzekwu hat bemerkt, dass es schwieriger ist, ein professionelles Niveau zu erreichen, wenn man nicht aus einem Musiker_innenhaushalt kommt. «Denn dort wird von Anfang an sehr darauf geschaut, wie man das lernt. Bei mir kam mit so zwölf, dreizehn Jahren ein bisschen der Schock: Wenn ich das wirklich machen will, dann muss ich jetzt reinbeißen.»
Den Versuch, elitäre Mechanismen in Bezug auf Klasse und Ethnizität zu durchbrechen, macht seit 2009 zum Beispiel der Verein Superar. Dieser bietet kostenfreie Orchester-, Chor- und Musicalkurse von professionellen Musiker_innen für Kinder und Jugendliche, und versucht jene zu erreichen, die sonst wenig Chancen haben, ein Instrument zu erlernen.
Favoriten, New York, England.
Dass die Klassikszene so weiß ist, sei ihm lange nicht bewusst gewesen, sagt Nzekwu. «Ich bin zwar in Favoriten aufgewachsen, was recht gemischt ist, aber Schwarze gab es in den 80ern und 90ern nur sehr wenige. Ich war also immer der einzige, in allen Bereichen, und darum habe ich es nicht in Frage gestellt.» Rassismus und Diskriminierung habe er in seiner Ausbildung und im bisherigen Berufsleben in der Klassik-Branche nicht persönlich erlebt, sagt er, und fügt hinzu: «Sonst schon.»
Anlässlich eines Aufenthalts in New York sei ihm dann zum ersten Mal klar geworden, «wie das eigentlich ist in der Klassik, mit Hautfarben». Es ging um eine Einladung, in der weltberühmten Carnegie Hall zu spielen. «Als ich ankam, gab es ein Treffen mit den Kollegen und fast alle hatten Black-Minority-Ethnic-Background. Ich fand das aufregend. Dann hat sich rausgestellt, die Sache in der Carnegie Hall war im Rahmen des ‹Black History Month›. Und ich dachte: Man hat also einmal im Jahr einen Monat, wo Konzerte von Schwarzen für Schwarze gespielt werden? Ich möchte das auch gar nicht zu viel beurteilen, weil ich keine amerikanischen Wurzeln habe und nicht weiß, wie sich diese Geschichte genau anfühlt, aber das war mein erster beruflicher Kontakt mit diesem Thema. Das war schräg und etwas verstörend.»
Bei seinen Engagements in England, wo er seit einigen Jahren in Projekten der «Chineke! Foundation» musiziert, die Diversität in der klassischen Musik fördert, habe er dann bemerkt, dass die fehlenden Schwarzen und People of Color in der Klassik definitiv nichts mit ihrer geringeren Anzahl in der Bevölkerung zu tun haben können. Denn auch in sehr diversen Ländern sind die Ensembles und Orchester sehr weiß.
Vorbilder.
In der Klassik ist das besonders sichtbar, aber nicht nur dort. «Weiße heteronormative Männlichkeit strukturiert auch die Jazz-, Rock- und elektronische Musikszenen. Allerdings sind diese Szenen etwas durchlässiger, weil dort die musikalische Ausbildung in der Kindheit und die Klassenlage der Eltern weit weniger Bedeutung haben», erklärt Rosa Reitsamer. «Zudem existieren in den Rock-, Pop-, elektronischen Musikwelten auch zahlreiche feministisch-queere und antirassistische Netzwerke, wenngleich die gewerkschaftliche Vernetzung auch in diesen Bereichen nicht sonderlich stark ausgeprägt ist», so die Musiksoziologin.
«Eine Möglichkeit, um mehr Bewusstsein für Ausschlussmechanismen aufgrund von Geschlecht, Ethnizität oder Sexualität zu schaffen, sind zum Beispiel Anti-Bias-Trainings», sagt Reitsamer in Bezug auf Ausbildungsinstitutionen. Um die Lage langfristig zu ändern, brauche es vor allem Vorbilder, ist Nzekwu überzeugt. «Ein schwarzes Kind, das im Fernsehen ein weißes Orchester sieht, wird sich denken: Das ist nicht für mich, denn niemand sieht aus wie ich.» Sichtbare Diversität sei aber auch im Publikum wichtig. «Je bunter die Menschen auf der Bühne, desto bunter das Publikum. Und, wenn es schon um die Pflege von Kultur geht: Die Musik profitiert. Die Musik hat es verdient, dass sie von allen gespielt wird.»
Der musikalische Kanon allerdings ist ein weiteres Indiz dafür, dass all jene, die nicht weiß und männlich sind, systematisch ausgelassen wurden. So schreibt die Schwarze Musikwissenschafterin Neneh Sowe aus Deutschland in ihrem Text Ausradiert, unsichtbar gemacht und gesilenced im Missy Magazine aus dem Jahr 2020: «Und wenn schon weiße Komponistinnen nicht thematisiert werden, dann tauchen Komponistinnen of Color noch nicht einmal auf dem Radarrand der musikwissenschaftlichen Szene deutscher Universitäten auf. Aber natürlich gab es sie.» Nora Holt, die 1885 geborene Afro-Amerikanische Sängerin und Komponistin ist dabei nur eine von mehreren.
Komponist_innen.
Auch für die Schwarze britische Komponistin Eleanor Alberga waren viele Namen neu, als sie für A History of Black Classical Music recherchierte, wie sie in der Beschreibung für diese BBC-Radioreihe angibt. Rosa Reitsamer bestätigt, dass die Musikwissenschaft lange nur weiße männliche Komponisten im Fokus hatte. In den letzten Jahren gäbe es aber mehr Forschung, die sich mit Komponist_innen und Musiker_innen of Color beschäftige und «die historischen Konstruktionen von whiteness und Blackness in der westlichen Kunstmusik» offenlege. «Ein Beispiel ist das Buch Singing Like Germans von Kira Thurman» so Rosa Reitsamer im E-Mail.
Robert Olisa Nzekwu, der im Studium auch nichts über Schwarze und Komponist_innen of Color gelernt hat, meint: «Das muss wohl eine Entscheidung sein, welche Musik von wem man pflegt.» Von Joseph Bologne etwa, einem französischen Geiger und Komponisten, der zu Mozarts Zeiten immerhin ein Star war, habe er erst spät zum ersten Mal gehört.
Auf der Bühne, im Publikum und musikalisch muss sich also etwas ändern. Intendant_innen und Veranstalter_innen sieht Nzekwu in der Pflicht. «Es sollte in der Zukunft nicht so sein, dass man, wenn man mich auf der Bühne sieht, denkt: Ah, ein Schwarzer Geiger, das habe ich noch nie gesehen», sagt er. «Es sollte überhaupt keine Rolle spielen, sondern eine Selbstverständlichkeit werden.»