Wie ein komischer VogelArtistin

Indira Nuñez über das Schmerzgedächtnis, die Suche nach einem Zuhause und andere Anstrengungen

Narben als persönliche Erinnerungen, Sucht nach Bewegung und eine Neigung zur Nostalgie: Die Performerin Indira Nuñez arbeitet mit dem Moment der Übertreibung. Im Herbst tritt sie im WUK auf. Michael Franz Woels und Carolina Frank haben sie in ihrem «möglichen Zuhause» getroffen.

Foto: Carolina Frank

Kann die Sehnsucht nach Schutz zum Irrsinn führen? Bedeutet Zuhause notwendigerweise Geborgenheit? Welchen Einfluss hat die Globalisierung auf unsere unmittelbaren Lebensumstände und -umgebungen? Wie verletzlich sind wir, wenn wir isoliert leben?

Dies waren Ausgangsüberlegungen für das stark autobiografische Solostück «Sehn.Sucht» der Tänzerin und Choreografin Indira Nuñez, das diesen Herbst im Rahmen der Saisoneröffnung WUK performing arts uraufgeführt wird.

Vor zwölf Jahren kam die Tänzerin, ursprünglich aus Caracas, Venezuela, nach Wien: «Ich neige zu nostalgischen Gefühlen. Anfangs habe ich Venezuela sehr stark vermisst. Dann habe ich durch meine Arbeit als Yoga-Lehrerin und Tänzerin etwas Stabilität in Wien gefunden. Trotzdem sehne ich mich ständig nach geliebten Personen, habe diese Unzufriedenheit, dieses Gefühl, dass immer jemand oder etwas fehlt. Als ich mich verstärkt mit Yoga beschäftigt habe, habe ich das sogar noch stärker wahrgenommen. Durch den Versuch, es zu kontrollieren, ist es nur noch schlimmer geworden.»

Ein ganz überanstrengtes Ich

Indira Nuñez arbeitete anfangs im Rahmen von diversen Projekten mit Performerinnen wie Milli Bitterli, Lena Wicke-Aengenheyster (aka. Monsterfrau), Elisabeth Bakambamba Tambwe oder auch dem Tanztheater Homunculus, bevor sie 2012 ihr erstes Solostück «Cicatrix», gemeinsam mit dem Musiker Thomas Jirku, als Artist in Residence bei Bert Gstettner, dem künstlerischen Leiter des Tanz*Hotel, konzipieren konnte. La Cicatriz bezeichnet im Spanischen ein Wundmal, eine Narbe. In der westlichen Welt werden Narben oft als unschön empfunden, nichtsdestoweniger ist der Trend der Selbstperforierung durch Piercings oder der Verwendung von Haut als Bildträger für Tattoos ungebrochen. Und in der Medizin wird zum komplexen Thema des Schmerzgedächtnisses ebenfalls sehr viel geforscht.

Das allerdings ausschließlich auf autobiografischen Erlebnissen mit Selbstverletzungen aufgrund übertriebener Körperübungen basierende Stück «Cicatrix» thematisiert Narben als markante persönliche Erinnerungsstücke an blutige Verletzungen. Indira Nuñez kommentiert diese Lebensphase so: «Ich ging durch einen Prozess der Gewahrwerdung meiner damaligen Unfälle und Gedanken. Zentrale Fragestellungen waren: Wie erinnern oder vergessen wir schmerzhafte Erfahrungen, die durch die exzessive Arbeit am Körper entstehen können? Wo liegen die Grenzen persönlicher Schmerztoleranz?» Als düstere Impressionen zu ihrem Solostück «Cicatrix» hier ein paar Sätze aus einer kurzen Sprechtext-Sequenz des Tanzstückes: «live is so predictable … accidents happen … we lose control of things … we lose innocence … there is a place where all of our fears meet and shadows live … let’s remain in the light … because life can not exist in the dark.»

Das Thema der Übertreibung stand seit diesem Zeitpunkt als Movens für weitere Performances im Raum. Bei einem Workshop mit Constanza Macras in Berlin vor vier Jahren habe schließlich das Konzept zu dem Folgestück «Sehn.Sucht» erste Formen angenommen. Constanza Macras bestärkte Indira nach dem Vortanzen und der Darbietung eines Liebesliedes zur Entwicklung eines weiteren Solostückes. Indira Nuñez zu ihrer emotionalen Seite: «Durch Tanz spüre ich meine Emotionen, meine Gefühle. Diese Übertreibung hilft mir auch, in einen Zustand der Meditation zu kommen. Das ist ein persönliches Verhaltensmuster. Ich habe zum Beispiel mit der Performance-Künstlerin Florentina Holzinger eine Woche lang einen sehr intensiven Thaiboxen-Kurs, ein Gast-Training im Tanzquartier, gemacht. Da war ich durch diese (Über-)Anstrengung ganz ich. Ich brauche das, wahrscheinlich weil ich schon als Kind viel Bewegung und Sport und Tanz gemacht habe.»

Ein Freund kann ein Zuhause sein

Letztes Jahr gründete Indira, gemeinsam mit ihrer Schwester Ingrid Nuñez (die bei der aktuellen Produktion das Bühnenbild gestaltet), einer Architektin, die nun ebenfalls in Wien lebt, den Verein Hy.Per.Form und erklärt die Bedeutung des Namens folgendermaßen: «Seit dem Stück Cicatrix bin ich an Übertreibungen interessiert, an hyperrealen Formen. Das hat natürlich auch stark mit meinem Charakter zu tun. Das Wort Tanz wollte ich im Vereinsnamen vermeiden – es geht mir allgemein um Bewegungen, unterschiedlichste Ausdrucksformen und Bilder. Ich habe das Gefühl, dass Menschen versuchen, mich in meinem Schaffen zu begrenzen und dagegen will ich mich wehren. Hy.Per.Form ist der Versuch, gegen dieses Gefühl anzukämpfen. Und dieses Hy betont mein High-Gefühl, meine Abhängigkeit von und meine Sucht nach Bewegung.» Neben ihrer Schwester ist seit kurzem auch die Grafik-Designerin Sarah Krainer beim Verein Hy.Per.Form, der vor allem als Plattform zur Umsetzung von eigenen Projekten dient, die Kollaborationen mit anderen Künstler_innen aber nicht ausschließt.

In der rezenten Performance und Installation «Sehn.Sucht» geht es nun um die Suche eines Zuhauses, um das Gefühl des Angekommen- und Aufgehobenseins von – wie Indira sie nennt – Gegenwartsmenschen, die aufgrund von Fernbeziehungen sich im endlosen Sehnsuchtort Internet zu verlieren drohen: «Im Stück werden zwar auch die angenehmen, schönen Momente gezeigt, aber vor allem die schlimmen Folgen von übertriebener Sehnsucht dargestellt. Ich versuche, so zu spielen, wie es meinem Gefühlszustand vor etwa zwei Jahren entsprach. Diese Suche nach einem Zuhause, nach innerer Ruhe in meinen 20ern war nicht leicht, ich erinnere mich an ein Jahr, in dem ich regelrecht Panikattacken deshalb hatte. Dann habe ich zum Glück in Wien einen Freund gefunden und er wurde sozusagen mein neues Zuhause.»

Eine schwarze Taube in Wien

Das Phänomen der ortslosen Gegenwartsmenschen erklärt Indira so: «Ich verstehe darunter unsere Generation, Menschen in Europa, die immer online sind: WhatsApp, Facebook, ständig fokussiert auf das Handy, ständig bemüht, sich gut zu präsentieren. Man kennt niemanden wirklich und wird doch manchmal vielleicht gerade deswegen sehr oder zu intim.» Das Stück inszeniert daher ein häusliches Szenario, ein Küchentisch ist der zentrale Ort der Performance. Über Dinge wie diese wird gesprochen: Wer bist Du? Was machen deine Eltern? Hast Du eine Familie? Redest Du oft via Skype? Intime Einblicke in ein privates Leben einer Lateinamerikanerin in Wien werden gewährt, die Zuschauer_innen mutiert zu Voyeur_innen von Übersprungshandlungen einer dem Wahnsinn nahen Sehnsüchtigen. Um das Stereotyp der hyperemotionalen, gefühlsüberbetonten Lateinamerikanerin noch zu verstärken, werden zwei äußerst rührselige lateinamerikanische Lieder ausgewählt. Zum einen das Lied «A curuccucucú paloma» des Brasilianers Caetano Veloso, das auch in dem Film «Hable Con Ella» von Pedro Almodóvar vorkommt. Das zweite, «Paloma Negra» von Chavela Vargas, bekannt vom Soundtrack des Films «Frida». Es kommen also nur zwei Lieder vor – von Indira Nuñez selber gesungen –, die ohne Rücksicht auf unfreiwillige Komik oder peinliche Übertreibungen gemeinsam mit den anderen Klängen, die die Performance untermalen, Sound-Collagen von Skype-Gesprächen, Handy-Geräuschen und elektronischen E-Gitarren-Sounds von Thomas Jirku, verwoben werden.

Warum gerade zwei Tauben-Songs ausgewählt wurden, erläutert Indira Nuñez leicht kokett: «Ich fühle mich als Lateinamerikanerin und weiß nicht, ob ich den aktuellen Kunstgeschmack der Szene in Wien bedienen kann, da ich definitiv nicht diese blasse, androgyne Performerin bin. Ich fühle mich manchmal wie ein komischer Vogel, diese Paloma Negra eben. Eine schwarze Taube, schon lange in der Stadt, aber doch noch irgendwie exotisch. Im Stück zeige ich mein mögliches Zuhause, lade die Zuseher_innen zu mir nach Hause ein. Es sind neben einem Haufen elektronischer Gerätschaften auch viele Koffer auf der Bühne. Man weiß nicht genau, ob ich gerade einziehe oder ausziehe.»

www.hyperform.net

Aufführungen: 8. und 9. September, www.wuk.at