Wie macht man eine Ausstellung über Straßenzeitungen?vorstadt

Magazin-Covers, Geschichten, Videos, Musik: Mediale Vielfalt im Kornhausforum in Bern (Foto: © Alexander Gempeler)

Wie Strassenzeitungen Leben verändern – so heißt eine Ausstellung im Kornhausforum in Bern. Sie entstand in Zusammenarbeit mit der Schweizer Straßenzeitung Surprise. Auch der Augustin ist vertreten. Kuratorin Rebecka Domig über die Arbeit an einem Thema, das kaum jemandem in seiner ganzen Bandbreite bekannt und dennoch keine Marginalie ist.

Wenn man kurz die Augen schliesst und an eine Ausstellung denkt, dann vielleicht an Bilder oder an andere Objekte, die in einem Raum arran­giert wurden. Darin liegen auch die Ursprünge der modernen ­Museen und Ausstellungshäuser in Europa. In sogenannten Wunderkammern versammelten reiche Adelige und Kleriker ab dem 14. Jahrhundert ihre wertvollen Kunstgegenstände und seltenen Funde in repräsentativen Räumen, die sie Besucher:innen zeigen konnten. Korallen, Perlen und Bergkristalle lagerten neben getrockneten Kugelfischen, Schnitzereien aus Elfenbein, ledergebundenen Büchern, Instrumenten der Seefahrt oder Bronzestatuen. Alles, was unbekannt und anders war, erhielt besondere Aufmerksamkeit.

Persönliche Geschichten

Spuren dieser Anfänge finden sich auch im Ausstellungmachen von heute. In der Erarbeitung einer Ausstellung zu ­einem Thema spiegeln sich ebenso Interesse und Wertschätzung. Man bringt zum Ausdruck, dass man dieses Thema wichtig findet und dass es sich lohnt, genauer hinzuschauen und sich damit auseinanderzusetzen. Man findet etwas kostbar. Dies trifft auch auf das Thema Strassenzeitungen zu: Menschen verkaufen auf der Strasse eine eigens dafür hergestellte Zeitung oder ein Magazin und verdienen dadurch Geld. Das Konzept wirkt auf den ersten Blick simpel. Wie faszinierend, dass diese Idee aber nicht nur in Bern, Basel oder Zürich funktioniert, sondern auch in Leipzig, Skopje, Belgrad, Oklahoma City, Rio de Janeiro, Kapstadt, Taiwan oder Sydney! Zusammengeschlossen im Internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP sind heute 92 «Street Papers» in 35 Ländern und 25 Sprachen. Wie ernüchternd gleichzeitig, dass es weltweit nötig ist, solche Strukturen aufzubauen, weil überall auf der Welt Menschen aus den sozialen Netzen herausfallen, die uns doch eigentlich genau davor schützen sollten. Der weltweite Erfolg des Konzepts zeigt aber auch, dass beim Verkauf und Kauf eines Strassenmagazins oder einer Strassenzeitung weit mehr passiert als ein einfacher Warentausch. Strassenzeitungen bieten auf lokaler Ebene leicht zugängliche Hilfsstrukturen an und sind – ähnlich wie Schwarmintelligenz– international bestens vernetzt. In der Ausstellung Wie Strassenzeitungen Leben verändern geht es sowohl um den weltweiten Erfolg dieser Idee als auch um die Gründe für deren Notwendigkeit.
Es macht keinen Sinn, eine Ausstellung über Strassenzeitungen zu ­machen, ohne über die Menschen zu sprechen, die Tag für Tag auf der ­Strasse stehen und diese verkaufen. Ungefähr 90.000 Verkäufer:innen gibt es laut Schätzungen auf der ganzen Welt. Um diese Menschen muss es auch in der Ausstellung gehen. Doch hier stellt uns die Kulturpraxis des Ausstellungmachens ein Bein. Wie schon in den historischen Wunderkammern gibt das Konzept der Ausstellung bis ­heute vor, dass etwas «ausgestellt» oder «zur Schau gestellt» wird. Im Ausstellungsraum wird jedes Thema zum Ding und jede Lebensgeschichte zum Objekt, das von den Besucher:innen nach Lust und ­Laune begutachtet wird. Könnten Sie sich vorstellen, selbst zum Ausstellungsstück zu werden? Möchten Sie Ihre eigene Lebensgeschichte im ­Museum sehen? Was die eine Person als Anerkennung und Würdigung ­ihres Lebenswegs empfindet, kann für jemand anderen eine schmerzhafte Erfahrung sein. Historisch hat das Ausstellen von Menschen eine schreckliche Geschichte, gerade in den Ländern Europas. Trotzdem werden in der Ausstellung Porträts und Geschichten von Strassenzeitungsverkäufer:innen aus der ganzen Welt gezeigt. Es sind ­wertschätzende Einblicke in Lebenswelten, die in vertrauensbasierten Situationen entstanden sind und journalistischen Standards entsprechen. Durch die Geschichten lässt sich eindrücklich nachvollziehen, wie gesellschaftliche Mechanismen dazu beitragen, dass Menschen in die Armut gedrängt werden. Im Begleitprogramm wird es weitere Momente der direkten Begegnung geben, aber auf eine Art, bei der niemand zur Schau gestellt wird.

Klischees vermeiden

Wer diktiert das Narrativ einer Ausstellung? Wer entscheidet, welche Themen Aufmerksamkeit erhalten, welche Dinge gezeigt werden, welche Erzählungen Raum finden? Auch in der Antwort auf ­diese Frage klingt etwas aus den Anfängen des Ausstellungmachens an. Waren es früher die Fürsten, Kardinäle und Grafen (die männliche Form ist Absicht), die ihre Wunderkammern nach ihrer eigenen Idee der Weltordnung zusammenstellten, so sind es heute Kurator:innen, die Ausstellungen machen. Die Ausstellung ist ein Kind des Kolonialismus. Durch die Auswahl, Präsentation und Gestaltung wird eine bestimmte Leserichtung vorgegeben. Die längste Zeit galt dabei eine eurozentrische Sicht auf die Welt als neutraler Nullpunkt. Immerhin gab es in den letzten Jahren die Einsicht, dass die eigene Vorstellung nicht das Mass ­aller Dinge ist, und man gut daran tut, die eigene subjektive Perspektive auf die Welt zu reflektieren (und im Ausstellungskontext zu deklarieren). Das habe ich auch als Kuratorin gemerkt, die ich noch nie in existenzieller Weise von Armut betroffen war. Ich musste in den letzten Monaten an die Figur von Peter Pan denken, der seinen eigenen Schatten sucht. Wo sind meine blinden Flecken in Bezug auf dieses Thema? Welche Klischees habe ich im Kopf? Was sehe ich nicht? Das Team von Surprise (allen voran Sara Winter Sayilir) stand mir dabei wie die gute Fee Tinkerbell zur Seite und zeigte mir, wo ich meinen Schatten vergessen hatte. Gleichzeitig lässt sich feststellen, dass sich auch die Strassenzeitungsprojekte mitten in ­einem Lernprozess in Bezug auf Dekolonialisierung und Diversifizierung befinden.
Ich denke, das Format einer thematischen Ausstellung gewinnt grundsätzlich an Tiefe und Komplexität, je mehr Autor:innen involviert sind. Nicht umsonst etablieren sich aktuell immer mehr Ausstellungsformate, in der partizipative Autor:innenschaft geübt wird. Auch hier ist es ein bisschen wie mit dem Licht und dem Schatten. Ein Schatten verschwindet dann, wenn ein Objekt von unterschiedlichen Seiten beleuchtet wird. In der Ausstellung Wie Strassenzeitungen Leben verändern sind eine Reihe Schlaglichter und Perspektiven vertreten. Jede:r Besucher:in bringt wiederum eine eigene ergänzende Sicht auf das Thema mit. Ich hoffe, dass in der Summe eine vielstimmige Erzählung geschaffen wird. In diesem Sinn wünsche ich mir tatsächlich etwas von einer Wunderkammer. Dabei soll das Staunen aber nicht am Ende stehen, sondern den Weg freimachen für ein tieferes Verständnis unserer Welt – und für die Rolle, die Strassenzeitungen darin einnehmen. 

Rebecka Domig ist Kunsthistorikerin, freie Autorin und Kuratorin am Kornhausforum in Bern. Zentral in der Berner Innenstadt gelegen, versteht sich das Kornhausforum als ein niederschwelliger Ort der öffentlichen Teilhabe und kulturellen Begegnung. Alle Ausstellungen sind gratis zugänglich.

Dieser Text erschien am 13. Mai in der Schweizer Straßenzeitung «Surprise».
Erhalten via INSP.
www.surprise.ngo / www.INSP.ngo

Wie Strassenzeitungen Leben verändern – How Street Papers Change Lives
17. Mai – 3. Aug., Di – Fr, 10 – 19 Uhr, Sa 10 – 17 Uhr
Kornhausforum
Kornhausplatz 18, Bern, Schweiz
www.kornhausforum.ch

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