Früh am Morgen ging ich in die Bezirksstelle des Arbeitsamtes, um mich routinemäßig zu melden, als eine von knapp dreihunderttausend Arbeitslosen in Österreich, und reihte mich in die gewohnte Warteschlange vor den Büros ein. Die Gesichter aller, die da entlang der Wand warteten, aufgerufen zu werden, drückten die gleiche Ausweglosigkeit und Besorgnis aus. In diesem Emotionsspektrum waren ihre Augen zu Spiegel der Anpassung an offensichtlich unabänderliche Verhältnisse geworden, und ihre Kleidung trug die unübersehbaren Spuren anhaltender Kargheit. In dieser Szenerie leuchtete plötzlich ein gelbes Hemd mit der Aufschrift BOSS heraus, das vielleicht aus dem Depot einer karitativen Organisation stammte, aber sich aufsässig gegen die trübe Stimmung im Raum auflehnte, gegen den abgetragenen Designeranzug neben ihm und die Windjacke, die ihre beste Zeit vor Jahrzehnten gehabt hatte.
Ich wusste ja, dass solche Termine weder gute Nachrichten noch attraktive Jobangebote bringen, dafür aber den Lebensmut beträchtlich senken können. Wie eine Schafherde werden Arbeitslose zwangsweise, bedroht durch die mögliche Einstellung der Notstandshilfe, in verschiedene Selbstfindungskurse geleitet, die sich vor allem durch Zwangsdisziplin und formelle Sachlichkeit auszeichnen.
Angesteckt von der allgemeinen Nervosität begannen meine Knie zu zittern und kalter Schweiß lief meinen Rücken hinunter. Am Höhepunkt dieser Spannung kam von dem Mann im gelben Hemd plötzlich ein deutlich vernehmlicher Schluckauf, und alle anderen starrten mit einem Mal regungslos ins Leere.
Da erschien Tanya. Sie war ein blondes Mädchen, keine 30 Jahre alt, und trug einen silbrig schimmernden Pelzmantel. Ihr Gesicht strahlte ein bezauberndes Lächeln aus und fiel dadurch auf im allgemeinen Trübsinn. Ihre fröhliche und freundliche Ausstrahlung passte in diese Atmosphäre wie ein Paradiesvogel in einen U-Bahn-Tunnel. Ihr leichter Akzent ließ erraten, dass sie der zweiten oder dritten Generation osteuropäischer Einwanderer entstammte.
Nach kurzer Befragung und trotz meiner schüchternen Einwände sandte mich meine Beraterin streng blickend in den nächsten sinnlosen Kurs. Dann empfing mich der kalte Wintertag. Unter der Brücke fuhren die Garnituren der U-Bahn. Ich sah betrübt hinunter auf die Züge und stellte mir vor, sie könnten mich an Orte bringen, wo nur Glück und Sonnenschein herrscht. Da schlug Tanya wie eine Bombe in meine Träumereien ein. Als Leidensgefährtinnen beschlossen wir, zusammen eine Tasse Tee zu trinken und fanden dabei schnell zu einem vertrauten Gespräch.
Trotz drohenden Entzugs der Notstandshilfe besuchte sie ihren Kurs nur selten und versuchte mit einer kleinen Bestechung die Dinge wieder ins Lot zu bringen.
Weißt du, dass die Angestellten des AMS Tag und Nacht vor Angst bibbern, ihren Job zu verlieren und sich plötzlich unter uns finden müssen? Mein Berater weigert sich, irgendetwas von mir anzunehmen, obwohl er nur eineinhalb Tausender im Monat verdient. So unglaubwürdig erschien ihr ihre eigene Aussage, dass sie verwirrt innehielt. Dann vergaß sie das eben Erzählte und begann von ihren Shopping-Absichten zu schwärmen, während ihre großen goldenen Ohrringe vor Aufregung wild um die Ohrläppchen schwangen. Ihre Stimmung stieg in einem Moment zu einem Hochgefühl und fiel im anderen in ein Tief, als müsste sie immer wieder einen dunklen Teich voll Bitterkeit durchtauchen. Dann drückte sie verärgert ihre Zigarette aus, stieß irritiert den letzten Rauch aus und verließ mich. Mit der U-Bahn fuhr ich in die Stadt, um auf der Straße zu fotografieren. Ich wollte mein Portfolio erweitern.
Mit der Fotokamera zum Gürtel
Als ich mich schließlich nach meinem Zuhause zu sehnen begann, nach warmen Hausschuhen und einem Teller heißer Suppe, rief mich Hansi an. Hansi ist ein ständig arbeitsloser Träumer von 50 Jahren. Ständig trägt er Ideen über neue Fotoprojekte mit sich herum, die normalerweise nichts bringen. Er lebt alleine in einer winzigen, schrecklich schmutzigen Wohnung, in welcher enorm große Kakteen in der Ecke stehen. Er wollte mich um Unterstützung bitten beim Fotografieren von Nachtschmetterlingen, den Freudenmädchen am Gürtel, ein Projekt das vom Millionär Lugner gefördert wird. Mit Kamera und Stativ ausgerüstet begannen wir in Kälte und Finsternis unsere Tour nahe der U-Bahn-Station Thaliastraße, kamen an einigen Bars und Nachtclubs vorbei und landeten schließlich vor einem Lokal mit Auslagenscheiben über die volle Straßenfront. Wie mechanische Puppen saßen die Frauen darin, wie in einer Spielzeugkiste, aus welcher man sich nach Lust und Laune ein Stück herausgreift, um eine Zeitlang damit zu spielen. Ich bin Barbie zum Ausleihen, komm und spiel mit mir! Gar nicht puppenhaft waren aber die Gesichter der Frauen sie zeigten Spuren von Emotion und menschlicher Unvollkommenheit. Eine Dunkelhäutige lag in Embryonalstellung in einer Ecke und schlief, vom langen Warten erschöpft oder einfach nur stoned. Andere unterhielten sich oder sahen beim Fenster hinaus. Niemand las ein Buch oder strickte keine Ablenkung von der Hauptsache. Ihre Gesichter waren abgehärmt und unwirklich anzusehen im blauen Licht der Neonröhren. Weiter unten in der Straße standen unsere Schmetterlinge in Nerzmäntel an den Eingängen der Bars.
Wir wagten es nicht, die Sexarbeiterinnen heimlich zu fotografieren. Das ist ethisch nicht vertretbar und könnte den Erfolg des gesamten Projekts gefährden. Stattdessen wollten wir eine der Frauen fragen, ob wir sie aus der Entfernung fotografieren dürfen. Gerade kam eine aus dem Restaurant und spielte mit einer Zigarette unter der Straßenlaterne, hellblond und in einem silbrigen Nerzmantel.
Ich erkannte sie augenblicklich und erstarrte zur Salzsäule. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf es mich, und augenblicklich fanden sich die wirr durcheinander geworfenen Teile eines Puzzles zu einem klaren Bild zusammen. Im Moment wollte ich nur in ein Mauseloch kriechen. Aber Hansi, der alle Zeit der Welt zu haben schien, redete schon auf Tanya ein. Sie blieb ganz ungerührt, auch als sie mich erkannte. Und schließlich antwortete sie, dass sie überhaupt nicht gerne fotografiert werde. In ihrer dunklen Stimme schwang Feindschaft und Drohung mit.
Jede Weigerung hätte auch weniger Geld gebracht
Einige Tage später rief mich Tanya an. Wir trafen uns in einem Café, und eine Zeitlang fiel fast kein Wort. Dann begann sie leise zu weinen, sie war ein wenig betrunken. Seit einigen Jahren schon sei sie in diesem Geschäft. Der Erlös daraus sei manchmal hoch und manchmal niedrig, aber nie weniger als dreitausend im Monat. Sie sei mit 18 nach Wien gekommen als Ehefrau eines ziemlich wohlhabenden Mannes, der sie aber sehr bald ohne jede Unterstützung sitzen ließ.
Weit verbreitet ist das Vorurteil, dass käufliche Frauen wesenhaft sündig seien, dass sie sich zur Unmenschlichkeit degradieren, weil sie faul, gierig und dumm seien und so wenig Empfindungen hätten wie eine Sexmaschine aus Stahl. Das Leben lehrt aber, dass der schnell zum Opfer wird, der eine Verfehlung begeht und wie ein Dämon hüllt ihn die Verfehlung ein in ihre schwarzen Flügel voll Entbehrung und Armut. Hunger regiert die Welt. Die Verzweiflung trieb Tanya hierhin und dorthin, bis sie auf der erfolglosen Suche nach einer Lösung in die Hände eines Begleitservices geriet. Dort wurde ihr angedeutet, dass sie bei Männern auch Geld machen könne, ohne mit ihnen zu schlafen, wenn sie es nicht wollte. Doch sie hat sich nie geweigert, auch die letzte Erfüllung zu geben. Jede Weigerung hätte auch weniger Geld gebracht.
Sex aus Liebe kann man nicht für Geld anbieten, Sex zur bloßen Befriedigung aber sehr wohl. Als ich Tanya fragte, was sie über Männer denke, die für Sex bezahlen, meinte sie, dass es für viele Männer der einzige Weg sei, das zu bekommen, was sie brauchen. Die Mädchen sind bereit, Männerfantasien wahr zu machen, und werden für diese Leistung bezahlt. Für die Mädchen ist die Bezahlung die Erregung daran. Manche Mädchen, die Probleme bekommen mit ihren Dealern und Zuhältern, versuchen zwar den Ausstieg und die Rückkehr in ein normales Leben, aber sie halten es üblicherweise nicht lange aus ohne Alkohol, Kokain, Geld, Flirt und die Fleischeslust vieler Männer.
Escort-Unternehmungen haben eigene, strenge Gesetze und eine eigene Hierarchie unter den Mitarbeiterinnen. Auf der untersten Stufe, die am meisten gefährdet ist, stehen die Mädchen am Straßenrand und verdienen so viel wie Kellnerinnen. Auf der höchsten Stufe der Diven spricht man mehrere Fremdsprachen, ist von betörender Attraktivität und hat die angeborene Fähigkeit, die Launen wohlhabender Männer zu erraten und zu befriedigen. Mit der Promiskuität geht allerdings auch die Frische der Mädchen verloren, und damit beginnt der Abstieg auf der Karriereleiter.
Ich wollte von Tanya wissen, welcher Qualitäten es für solch eine bizarre Beschäftigung bedarf. Die Mädchen, meinte sie, müssen wahre Psychologinnen sein und sie müssen erfassen, was Männer wirklich brauchen. Sie selbst hat fünf bis sieben Männer pro Nacht, sie muss sie erdulden, sich ihren Wünschen anpassen und für sie attraktiv und sexuell stimulierend sein. Das ist nicht leicht.
Am Heimweg erinnerte ich an die Worte eines AMS-Trainers, ein erfolgreicher Mann in den Vierzigern, verheiratet und damit beschäftigt, Arbeitslose gegen ihren Willen zu unterrichten. Arbeitslose waren für ihn jene, die nur einfach nicht arbeiten wollen.
Was bedeutet arbeitswillig?
Stellen wir uns doch vor, was es bedeutet: arbeitswillig oder nicht. Alle Menschen haben Gehirn und Muskeln, alle wollen essen, schlafen und sich betätigen. Alle ohne Ausnahme haben kreatives Potenzial. Der Drang, aktiv zu sein, ist fundamental. Instinktiv wollen wir aber auch Bestätigung und Glück aus dem gewinnen, was wir tun. Für wen es befriedigend ist, in einem schlecht bezahlten Job Papiere zu sortieren, für den wird es immer so weitergehen. Derjenige aber, dem eine solche Beschäftigung nicht die Erfüllung bringt, dessen physisches Überleben dennoch von einem solchen Job abhängt, der wird sich im Elend, in der Frustration und im Zwang abquälen. Er muss den formalen Status, beschäftigt zu sein, über seine inneren Bedürfnisse stellen aber aus einem solchen Emotionsfeld kann er keine Leistung von gesellschaftlichem Wert erbringen.
Die Unmöglichkeit, die Realität nach eigenen Vorstellungen zu schaffen und zu gestalten, belastet den Menschen schwer und führt zu vorzeitigem Altern, unheilbarer Krankheit und Tod. Ganz bewusst müssen wir uns werden darüber, was wir tun und warum wir es tun.
Als in der Dunkelheit die Gestalt eines Nachtschmetterlings am Rand der Straße auftauchte, erinnerte ich mich an Tanyas Worte, dass jeder den Job tut, den er kann.
Politiker reden. Arbeiter arbeiten. Arbeitslose bilden das Gegengewicht zur Bürokratie und geben einer Armee von Büroangestellten Beschäftigung.
Geschäfte verkaufen Waren. Schmetterlinge verkaufen Illusionen an jene, die solcher bedürfen.