Der Ende letzten Jahres verstorbene Österreicher Eric Schwam vermachte einer südfranzösischen Gemeinde kolportierte rund zwei Millionen Euro. Warum, das kann ERICH FÉLIX MAUTNER berufen erklären. Immerhin wurde er in dieser Gemeinde geboren.
Diese Meldung ist im Jänner um die Welt gegangen: Flüchtling aus Österreich bedenkt die Gemeinde Le Chambon-sur-Lignon, Hte. Loire, in Frankreich in seinem Testament mit einem großen Betrag. Denn die Hugenotten-Gemeinde auf einem Hochplateau in rund 1000 m Seehöhe in der Nähe von Saint-Étienne hatte ihn einst erfolgreich vor den Nazis versteckt. Wie Tausende andere auch. Ein Beispiel der Humanität, wie die Bevölkerung gegen die eigene Regierung und gegen die Nazis Flüchtlingen geholfen hat.
Tatsächlich haben die Einwohner_innen Le Chambons während des Weltkrieges nicht nur ihn versteckt und somit gerettet, sondern Tausende andere jüdische Flüchtlinge auch. Die Zahlen variieren, weil ja darüber nicht Buch geführt werden konnte. Zusammengehalten wurden die Aktionen, motiviert und dirigiert von ihrem evangelisch-reformierten Pastor André Trocmé. Er war es auch, der die Résistance am Plateau «entwaffnet» hatte, um nur mit friedlichen Mitteln Widerstand zu leisten. Und mit der Kraft des tiefen Glaubens – wohl auch bestärkt, weil das «auserwählte Volk» betroffen war. Als der Pastor von den Deutschen verhaftet wurde, wurden gleich die Waffen der Résistance hervorgeholt und wieder versteckt, sobald Trocmé wieder zurück in der Stadt war.
Es waren vor allem Scharen jüdischer Kinder, die in Heimen – manche von schweizerischen Stiftungen finanziert – betreut wurden. Fast jede_r im Ort und in den umliegenden Siedlungen und Bauernhöfen hatte dabei eine Funktion, eine wusste, wo es freie Betten gab, einer führte die Ankommenden, eine warnte vor Gendarmerie oder SS usw. Besonders engagiert war auch die dortige Armée du Salut, die Heilsarmee. Und andere begleiteten die Verängstigten gruppenweise zur vermeintlich sicheren Schweizer Grenze – wo die Leute nicht selten von Schweizer Grenzposten an die Gestapo ausgeliefert wurden.
Den Braunen Wahnsinn abwarten. Dort bin ich in einem Versteck, in einem Bauernhaus, geboren. Die Mautners, mein Vater war Arzt und durfte nicht praktizieren, waren in die Gemeinde gut integriert, weil sie nicht weiterziehen, sondern den Braunen Wahnsinn in den französischen Bergen abwarten wollten, um nach Wien zurückzukehren. Ich habe sogar eine offizielle Geburtsurkunde des Bürgermeisters. Im Geburtenregister der Gemeinde stehe ich als «No 22» dieses Jahres und mit der Adresse der Eltern. Was schon recht gewagt aussieht.
Im gefährlich nahen Le Puy-en-Velay herrschte der deutsche Kriegsverbrecher Klaus Barbie, der durch seine grausamen Verhörmethoden während des Zweiten Weltkriegs traurige Berühmtheit als «Schlächter von Lyon» erlangt hatte. Eines der Kinderheime, ein großes, so wird erzählt, wurde immer wieder telefonisch aus Le Puy gewarnt, wenn die Deutschen in der Nacht kommen wollten, um die Kinder abzuholen – was den sicheren Tod für diese bedeutet hätte. Das hat eine Weile gut funktioniert. Wer der anonyme Menschenfreund war, wusste niemand. Aber die Kinder liebten diese Nächte, weil spontan eine Nachtwanderung ins Programm genommen wurde, ohne dass die Kleinen um die eigentliche Gefahr wussten. Ein Sechzehnjähriger hatte eine Nacht bei einem französischen Mädchen verbracht. Als er im Morgengrauen ins Heim zurückkam, war keines der Kinder mehr da. Sie waren in der Nacht von Deutschen abgeholt worden. Diesmal hatte niemand gewarnt.
Eine Zeit lang sind hin und wieder ehemalige Kinder aus diesen Kinderheimen aus der ganzen Welt in Le Chambon zusammengekommen, um dem Ort ihrer Rettung zu danken. Bei einem solchen Treffen war einmal auch das Ehepaar dabei, das dieses Heim geleitet hatte. Der Mann war dort der wirtschaftliche Leiter und die Frau für die Küche zuständig. Beide waren Deutsche, die nach dem Krieg in Paris blieben. Ich hatte ihm davon erzählt, dass ich in der Buchhandlung am Place du Marché das Buch Dass nicht unschuldig Blut vergossen werde des amerikanischen Philosophen Philip Hallie gekauft hatte, das Le Chambon als ethische Besonderheit während des Weltkriegs beschreibt. Das wollte er sich sofort auch besorgen. Tags darauf traf ich ihn wieder auf der Straße und er kam mir ganz aufgeregt entgegen: Welche Frechheit das sei, hier wird behauptet, der wirtschaftliche Leiter des Kinderheimes hätte die Kinder an die Deutschen verraten. Er werde Verlag und Autor klagen. Ich habe das Buch später fertiggelesen. Aber diese Behauptung steht da nirgends.
Bis zu fünf verschiedene Unterkünfte. Die Geschichte der Bürger_innen Le Chambons samt den umliegenden Dörfern ist ein Vorbild für ethisches Verhalten, zivilen Ungehorsam und Menschlichkeit. Meine Familie hatte zeitweise fünf verschiedene Unterkünfte gemietet, um je nach Bedrohung abzutauchen. Die Gendarmen, die natürlich besser Bescheid wussten als die Deutschen, praktizierten ihren Widerstand auf ihre Art. Einmal rief einer meinen Vater an: «Herr Doktor, wir werden sie morgen vormittags abholen!»
Eines Tages kam mein älterer Bruder heim und erzählte, dass ein freundlicher deutscher Soldat ihm übers Haar gestrichen hatte. Hätte ihn der Soldat etwas gefragt, hätte das seinen sicheren Tod bedeutet. Er durfte also nicht mehr Deutsch sprechen und wurde deshalb von einer Bauernfamilie aufgenommen. Als wir 1946 nach Wien kamen, konnte er kein einziges Wort Deutsch. Aber Kühe hüten.
Über das Wunder von Le Chambon wurden seither viele Bücher und Studien veröffentlicht. Weltweit wird dieses Phänomen wissenschaftlich untersucht, vor allem, warum sich (zuerst) das antisemitische État français des Vichy-Regime und (dann) die deutsche Wehrmacht den gallischen Widerstand hat gefallen lassen. Denn, dass jahrelang versteckt wurde, konnte ihnen nicht verborgen geblieben sein. Hatten Soldaten nach jüdischen Flüchtlingen gefragt, so folgte meist als Antwort «Nie gesehen!» oder die Gegenfrage, wer oder was das sei. Die Leute, hauptsächlich einfache Bäuerinnen und Bauern, waren wunderbar.
In anderen, von den Nazis eingenommen Städten, wurde schon geringerer Widerstand brutal an die Wand gestellt. Eine plausible Erklärung für die scheinbare Nachlässigkeit könnte gewesen sein, dass die Wehrmacht den Ort und seine ordentliche Infrastruktur für die Rehabilitation ihrer an der Ostfront verletzten Offiziere gebraucht hatte. Le Chambon-sur-Lignon ist ein wertvoller Luftkurort. Daher auch bis heute die vielen Kinderheime.
Gerechte unter den Völkern. Nach dem Krieg wurde Pastor André Trocmé in den Weltkirchenrat nach Genf berufen. 1971 wurde er und 13 Jahre später auch seine Frau Magda von Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern geehrt, wie weitere 32 Bürger_innen von Le Chambon-sur-Lignon. 1990 zeichnete Yad Vashem das Dorf mit einer besonderen Urkunde in Anerkennung des menschlichen Verhaltens seiner Einwohner_innen während des Krieges aus. Manche Historiker_innen stellen André Trocmés wegen seinem gewaltfreien Einsatz für den Frieden in eine Reihe mit Martin Luther King und Mahatma Gandhi.