Wien I. MölkerbasteiDichter Innenteil

Der Dozent hatte Groll eines Tages auf das restaurierte Liebenbergdenkmal aufmerksam gemacht, das dem ehemaligen Wiener Bürgermeister und Verteidiger Wiens gegen die türkische Armee gewidmet war. Groll betrachtete die Statue und fuhr sich mit dem Handrücken übers Gesicht, -als müsse er eine Spinnwebe zerreißen. Und tatsächlich, es war eine Spinnwebe der Erinnerung, die sich Grolls bemächtigt hatte. Er erinnerte sich an den Frühsommer des Jahres 1978, als neben dem Denkmal noch die Ringbuchhandlung bestand, eine von den Studenten der nahen Universität geschätzte Buchhandlung mit philosophischem und soziologischem Schwerpunkt. Die Buchhandlung hatte einem kirchennahen Konzern gehört und Groll war überrascht gewesen, als eines Tages anstelle der Buchhandlung ein Kopierzentrum aufmachte. Mittlerweile wurde es von einem Fastfood-Lokal abgelöst, welches Sandwiches anbietet, die so schmecken wie die Kette heißt: Subway.

Damals, im Sommer 1978, waren die kirchlichen Finanzen aber noch in Ordnung und in der Buchhandlung standen überall lesende oder nach Büchern suchende Studenten. Unter ihnen befand sich auch ein Bekannter Grolls aus dem Kremstal. „Sergel“, so wurde er wegen seines Namens Sergelhuber allgemein genannt, stammte aus Rehberg, er wohnte neben der ehemaligen Schuhfabrik, und er studierte seit längerem Biologie. Sein Spezialgebiet aber war die Philosophie; er konnte sich stundenlang darüber alterieren, dass das Kant’sche Apriori seinerseits eine historische Komponente voraussetze, die voraussetzungslose Erkenntnis mithin eine Schimäre sei. Sergel war ein eloquenter und impulsiver Mann in den späten Zwanzigern; er war freundlich und zuvorkommend, und er war sehr, sehr groß. Sein knochiges Gesicht war nicht unbedingt schön zu nennen, aber es hatte einen offenen und klugen Ausdruck und in den tief liegenden Augenhöhlen ruhten wache, manchmal etwas gehetzt wirkende Augen, die dem schlaksigen Mann, wenn er in einer Diskussion in Fahrt gekommen war, etwas Verwegenes verliehen. Dann erinnerte der friedliche Biologe und Philosoph an einen Seeräuber.

Im Handumdrehen hatte „Sergel“ Groll in ein Gespräch über das Kant’sche Apriori verstrickt, das heißt, Gespräch war nicht das richtige Wort, über Groll ergoss sich ein ungeheurer Redeschwall, und da „Sergel“ mehr als einen Kopf größer war als Groll, prasselten die Worte und Begriffe auf Grolls Kopf und tropften siedend heiß über seine eingezogenen Schulter zu Boden. Groll war damals in der Philosophie ein blutiger Anfänger, und mit jedem weiteren Begriff, den Sergel zur Absicherung seiner Position ins Treffen führte, wuchs Grolls Ratlosigkeit. Vorsichtig zog er sich aus der Buchhandlung zurück, aber Sergel ließ sich davon nicht beirren, er setzte auf dem Bürgersteig und auf der Nebenfahrbahn des Rings seinen Exkurs über das Apriori bei Kant fort. Seine riesigen Hände ruderten wie die Schaufelräder einer Windturbine durch die Luft und unterstrichen das Gesagte.

Groll flüchtete über den Ring zur Hauptstiege der Universität, er wollte pünktlich zu einer politikwissenschaftlichen Lehrveranstaltung kommen. Sergel ließ sich davon aber nicht abschrecken, auf dem Ring redete er weiter auf Groll ein, ebenso auf der Hauptstiege, dann auf einer Seitenstiege, einem langen Gang, noch einem Gang und er hörte auch nicht auf, als Groll in einem Hörsaal Platz nahm. Der Professor hatte eben seine Aktentasche geöffnet und schickte sich an, die Lehrveranstaltung zu eröffnen, er wartete kurz, bis der übereifrige Redner fertig sein würde, aber das war ein Fehler. Schließlich wurde Sergel von ihm des Saals verwiesen. Da zuckte Sergel zusammen, als wache er aus einem Traum auf. Gebückt schlich er aus dem Hörsaal, ein entschuldigendes Lächeln spielte um seine Lippen.

Groll hatte keine Ahnung, was aus seinem Bekannten geworden war. Die letzte Information, die er über Sergel hatte, bezog sich auf eine Halbtagesarbeit, der Sergel im Naturhistorischen Museum nachging. Farne klassifizieren, sagte ein Freund Sergels und grinste, aber Groll hielt das für eine unqualifizierte Äußerung. Was er aber noch in Erinnerung behalten hat, war der Name von Sergels Mitarbeiter im Museum: Michael Häupl. Gut möglich, dass dieser von Sergels philosophischen Vorträgen aus dem Museum ins Wiener Rathaus geflüchtet war, dachte Groll. Insofern war Sergel dafür verantwortlich, dass der Wissenschaft ein fähiger Mitarbeiter abhanden gekommen war. Ob das durch die Tätigkeit Häupls als Bürgermeister kompensiert wird, vermochte Groll nicht zu sagen. Das sollten andere beurteilen, dachte er und schwieg beharrlich, als der Dozent mehrfach nach dem Grund von Grolls Geistesabwesenheit fragte.

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