Wien-Klischees historisch betrachtetvorstadt

Ilsa Bareas kritischer Blick auf ihre Geburtsstadt

Gemütlich, weinselig, gewitzt, humorvoll seien die Wiener_innen. Filmschnulzen, Tourismuswerbung, schmalzige Lieder und anderer Kitsch befördern das Klischee. Allzu oft beruft man sich auf eine glorreiche Vergangenheit mit weisen und gütigen Herrscher_innen, herrlicher Architektur und genialer Musik. Dass es die «gute alte Zeit» nie gab, der schöne Schein seine dreckige Kehrseite hat und auch historische Größen keine eindimensionalen Menschen waren, liegt auf der Hand. Einen schonungslosen, kritischen Blick auf ihre Heimatstadt und deren Geschichte und Einwohner_innen warf die Publizistin und Volksbildnerin Ilsa Barea (geborene Ilse Pollak, 1902–1973) in ihrem 1966 erschienenem Vienna. Legend and Reality. Nun ist das hervorragende Buch, das m. E. in eine Reihe mit den Standardwerken zur österreichischen Geistes- und Kulturgeschichte etwa von Carl E. Schorske und William M. Johnston zu stellen ist, endlich auf Deutsch erschienen. ­In Wien. Legende & Wirklichkeit unternimmt Barea «den Versuch, die Elemente, die zur Herausbildung der Wiener Gesellschaft und der Einstellung beigetragen haben, sowie die Einflüsse, die die Architektur, die kulturelle Atmosphäre und die Sprache in meiner Geburtsstadt geformt haben, herauszuarbeiten».
Dabei stützt sich Barea auf zahlreiche wissenschaftliche und literarische Quellen, eigene Erinnerungen, aber etwa auch Erzählungen ihrer Eltern. Ihr Hauptaugenmerk legt sie auf das 18. und 19. Jahrhundert und den Beginn des 20. bis zum 1. Weltkrieg. Die Sozialdemokratin, die seit 1934 im Exil (ab 1939 in England) gelebt hatte und 1965 endgültig nach Wien zurückkehrte, bezieht politisch eindeutig Stellung und gibt neben historischen Geschehnissen (z. B. die 1848er-Revolution) und hervorstechenden Persönlichkeiten (u. a. Metternich, Grillparzer, Franz Schuhmeier, Adelheid Popp) besonders der Sozialgeschichte viel Raum.

Ilsa Barea: Wien. Legende & Wirklichkeit
Übersetzt und herausgegeben von Julia ­Brandstätter und Gernot Trausmuth
Edition Atelier 2021
464 Seiten, 38 Euro / E-Book: 29,99 Euro