September, der fünfte, Wien West. Kopfbahnhof, Endstation, Zwischenstation nach Deutschland, Alemania, Alemania, für Flüchtlinge, und es ist einerlei, ob es Dutzende oder Hunderte oder Tausende sind, denn was sagen schon die Zahlen aus über eine Masse, die sich wie ein menschgewordenes Versagen der Politik über Fernsehbildschirme und Titelseiten ergießt.Die Menschen kauern auf den Bahnsteigen, gehen umher und tippen konzentriert Nachrichten in ihre Handys, spielen mit den Kindern, oder ist es nicht vielmehr andersherum, dass die Kinder den Erwachsenen das Kindsein nur vorspielen, in der Hoffnung, ihre Eltern aufzuheitern? Manche Helfer haben Zettel mit arabischen Schriftzeichen an die Brust geheftet, in einer Ecke ruft eine junge Frau Anweisungen, man versteht nur Ticket und Alemania. Irgendjemand ruft heraus «Wir brauchen einen Arabisch-Dolmetscher! Bitte, gibt es hier Arabisch-Dolmetscher?» Und dann sieht alles wieder wie bei einem Picknick aus, wenn aufmunternd lächelnde Helfer Banane, Apfel, Semmel, Mineralwasserflasche und Schokolade in einzelne Plastiksäcke verpacken, für jeden einer, als würde eine Schulklasse zum Wandertag geschickt. Wenige Meter daneben könnte man sich auf einem Flohmarkt wähnen, wenn auf dem Boden Schuhe und Kleider sortiert werden und die Menschen mehrere Schuhe mit der Sohle an ihrem Fuß abmessen, bevor sie mit einem Kopfnicken zu verstehen geben, ja, die nehme ich. Aber nein, kein Wandertag und kein Flohmarkt wird da gespielt, sondern es wirkt fast so, als würde hier im Kammerformat das nachgestellt, was seit Wochen tagtäglich in den Nachrichten wesentlich größer, elender, hoffnungsloser zu sehen ist. So sieht das also aus, das also kann und muss der Bahnhof auch sein, ein Zwischenhafen zur Stärkung, eine Proviantstation, ein Ort der relativen Sicherheit, zum Durchschnaufen, um sich endlich das Gesicht und Arme zu waschen, das Handy aufzuladen, die Zähne zu putzen, sich zu rasieren.
Abfahren, ankommen, durchreisen oder stranden
Der Bahnhof, konzipiert als Konsumtempel, blitzblank und zum Einkaufen einladend, weckt heute ausnahmsweise Erinnerungen an das, was Bahnhöfe früher einmal waren, bevor sie vom Kapital entdeckt wurden, nämlich Orte für Reisende, für Menschen, die abfahren, ankommen, durchreisen oder stranden. An diesem Septembertag sind so viele Menschen am Westbahnhof, dass die bunten Schaufenster hinter den Menschen verschwinden und nur noch eine absurde Kulisse für das geschäftige Treiben abgeben, wo sie doch noch bis vor kurzem mit ihren kapitalistischen Heilsversprechen die Szenerie dominiert hatten, und wo es eher so ausgesehen hatte, als würden die Konsument_innen, pardon Reisenden, bloß zur Bedienung und Frequentierung der Geschäfte da sein. Wer an diesem Tag durch den Westbahnhof geht, ertappt sich dabei, dass er unablässig versucht zu erkennen, wer von den vielen Menschen in der Halle gerade auf der Flucht ist, wer auf Geschäftsreise ist, wer nur deshalb da ist, weil er gerade auf die großzügigen Öffnungszeiten der Post am Bahnhof angewiesen ist, und wer möglicherweise da ist, um zu helfen, oder aber nur, um sich alles das anzuschauen, wie das so ist, wenn sich der Bahnhof der eigenen Stadt plötzlich auf einer globalen Fluchtroute wiederfindet.
Angespannt, erschöpft und vorläufig erleichtert wirken viele dieser Bahnhofsgesichter, mit Bartstoppeln auf den ausgehöhlten Wangen und rotgeäderten Augen, aber Achtung, man hüte sich vor voreiligen Schlüssen, nicht jeder unrasierte, schmächtige Mann ist ein Flüchtling, nicht allen Flüchtlingen sieht man die Strapazen auf den ersten Blick an. Wien West, ein Zwischenstopp auf der Fluchtroute, ein Ort, von dem die heutigen Flüchtlinge erzählen werden, Jahre später, wenn sie keine Flüchtlinge und keine Refugees mehr sein werden, sondern Migrant_innen oder Bürger_innen mit Fluchthintergrund, oder welche Bezeichnung auch immer man in Zukunft für diese tapferen Menschen gefunden haben wird.