Wieso die Armen nicht gern zur Urne schreiten …tun & lassen

... und was die Reichen davon haben

Wer arm ist, geht weniger oft wählen. Ist Demokratie nur noch was für die Reichen? Und was sagt das über die Parteienlandschaft aus? Eine Recherche zum bevorstehenden Wahlsonntag. Text: Lisa Bolyos, Illustration: Barbara Ott

«Man bestimmt eh nicht mit.», sagt Anna P. «Die machen, was sie wollen.» Damit bestätigt sie Studienergebnisse über Motive des Nichtwählens: Bestehen innerhalb einer Gesellschaft große Unterschiede an Ressourcen wie Geld oder Bildung, dann verfestigt sich bei den wenig Privilegierten das Gefühl, dass sie politisch sowieso nichts gegen die stark Begünstigten ausrichten können. Folglich fühlt es sich auch sinnlos an, bei demokratischen Verfahren wie dem Wählengehen mitzumachen. «Die da oben» entscheiden ja ohnehin nur, was ihnen zum Vorteil gereicht.
Seit dem neuen Aufschwung rechter Parteien interessieren Medien sich vor allem dafür, was gewählt wird. Warum, fragt man in regelmäßigen Abständen, wählen die «Bildungsfernen», die Unterprivilegierten, die Randbezirksbewohner_innen und Langzeitarbeitslosen schon wieder das Falsche, sprich: FPÖ, AfD, Jobbik oder Rassemblement National, obwohl gerade diese Parteien die Armen doch verachten? Gut zu wissen ist dabei jedoch, dass Armutsbetroffene insgesamt relativ selten wählen gehen. Und dass Reichtumsverwöhnte davon profitieren.

Demokratie – eine exklusive Veranstaltung?

Anna P. ist Ende fünfzig, kommt aus Niederösterreich und ist der Arbeit wegen nach Wien gezogen. Pendeln fand sie anstrengend, der Ausbau des öffentlichen Verkehrs stünde neben leistbarem Wohnbau und einer Migrationspolitik, die Menschenleben achtet, auf der politischen Agenda, wenn sie etwas zu sagen hätte. Aber den Eindruck hat sie nicht. «Ich glaube nicht, dass es was bringt, wenn ich wählen gehe. Mit meiner Stimme allein kann ich die FPÖ auch nicht verhindern.» Ihre Großmutter, sagt Frau P., sei «lieber in die Kirche als zur Wahl gegangen», und sie selber war erleichtert, als 1982 die Wahlpflicht bei der Bundespräsidentschaftswahl abgeschafft wurde: «Der Sonntag war oft mein einziger freier Tag.»
Anna P. verkauft seit 17 Jahre den AUGUSTIN, ihren Verkaufsplatz hat sie im 8. Wiener Gemeindebezirk. Hier in der Josefstadt sind, so macht es eine Statistik auf den Seiten der Stadt Wien ersichtlich, dieses Jahr mehr als 73 % der Wahlberechtigten zur Europawahl gegangen. In Rudolfsheim-Fünfhaus hingegen waren es 55 %. Sieht man sich vergleichend die Statistik der lohnsteuerpflichtigen Nettoeinkommen an, so rangiert der achte Bezirk auf den vorderen Plätzen (24.464 Euro im Jahr 2017), der fünfzehnte (17.893 Euro) bildet das Schlusslicht. Zufall oder Zusammenhang?
Martina Zandonella vom Sozial- und Meinungsforschungsinstitut SORA bestätigt die demokratische Schere zwischen Arm und Reich: «Dass die Wahlbeteiligung der sozioökonomisch schwächsten Bezirke in Wien um so viel geringer ist als jene der sozioökonomisch stärksten Bezirke, bedeutet, dass die Menschen, die bereits sehr viel haben, sich auch mehr politisch beteiligen. Und das führt dazu, dass ihre Interessen besser vertreten werden und sich letztlich auch stärker in unseren Gesetzen wiederfinden.» Außerdem charakterisiere die Schlusslicht-Bezirke, dass dort «viele Menschen leben, die aufgrund ihrer ausländischen Staatsbürgerschaften nicht wahlberechtigt sind – der Ausschluss aus dem demokratischen Prozess hat also unterschiedliche Gesichter, kommt jedoch in Städten wie Wien räumlich zusammen». Wenn am 29. September ein neuer Nationalrat gewählt wird, wird in Wien rund ein Viertel der Bewohner_innen im Wahlalter nicht wählen dürfen. Sie haben keine österreichische Staatsbürger_innenschaft, und obwohl sie hier leben, arbeiten und mitgestalten, können sie – zumindest am Wahlsonntag – nicht mitreden. Rechnet man ein weiteres Viertel der Stadtbevölkerung dazu, das den Urnengang trotz Wahlberechtigung verweigert, sind es schon relativ viele, die nicht mitbestimmen. Nun kann man von repräsentativer Demokratie und ihrem Herzstück, der Wahl, halten, was man will. «Ich will vielleicht nicht wählen, aber dürfen muss ich», könnte aber doch, frei nach dem Slogan der Bettellobby, der kleinste gemeinsame Nenner einer Wiener Wahlrechtsbewegung sein.

Die Demokratie beobachten …

Jede fünfte Person mit schlechter finanzieller Absicherung verzichtet auf politische und zivilgesellschaftliche Teilhabe, stellt der Österreichische Demokratie Monitor fest – latscht also bei keiner Demonstration mit, ist in keiner Bürgerinitiative aktiv und geht nicht wählen. Der Demokratie Monitor, ein Projekt des Forschungsinstituts SORA, soll den «Zustand der Demokratie in Österreich» untersuchen. «Wir haben seit einiger Zeit beobachtet, dass die Menschen mit der Demokratie in Österreich immer weniger zufrieden sind und dass autoritäre Tendenzen – etwa die Vorstellung, dass ein ‹starker Mann› das Land regieren soll – zunehmen», erklärt Projektleiterin Martina Zandonella. «Damit zusammen hängt, dass immer mehr Menschen das Gefühl äußerten, nicht richtig zur Gesellschaft dazuzugehören, nicht in gerechtem Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand teilzuhaben und von der Politik nicht vertreten zu werden.» So habe man den 100. Jahrestag der Gründung der Ersten Republik genutzt, um den Demokratie Monitor aus der Taufe zu heben. Der soll den Zustand der Demokratie erfassen und Maßnahmen zu ihrer Stärkung entwickeln.

… und ihr unter die Arme greifen.

Wie stärkt man eine Demokratie? «Eine möglichst lebendige Demokratie, die möglichst allen gehört, ist eine große Herausforderung», meint Zandonella. Partizipation – egal ob im Wahllokal, im Grätzl oder auf der Straße – müsse so gestaltet sein, dass sie von möglichst vielen genutzt wird. «Politik soll vom Volk ausgehen», findet auch Gernot H., der seit fast zwanzig Jahren den AUGUSTIN verkauft. «Sie soll weniger repräsentativ sein. Aber Partizipation ist mehr Arbeit für alle.» Und mehr partizipative Demokratie allein ist auch kein Zaubermittel, meint die Politikwissenschaftlerin Tamara Ehs, die sich mit «Demokratie als soziale Klassenfrage» beschäftigt: «Menschen einfach nur mehr Instrumente hinzuwerfen, das reicht nicht.» Beteiligungsprozesse müssen gut durchdacht sein, damit nicht «immer dieselben Leute» mitreden. Bürger_innenräte in Irland und Vorarlberg nennt Ehs als positive Beispiele, denn hier wurde durch spezifische Auslosungsgverfahren die Heterogenität der Teilnehmer_innen gesichert. «Plötzlich kommen Themen und Perspektiven dazu, die sonst völlig übersehen werden, weil sie der Lebensrealität von Politiker_innen nicht mehr entsprechen.» Werden die Biografien von Politiker_innen immer mehr zu Wohlstandsbiografien, machen Politiker_innen selbst keine Armutserfahrungen mehr oder erleben sie im sozialen Nahraum, wird auch keine Politik gegen Armut gemacht.
Eine andere Möglichkeit, mehr Partizipation zu erreichen – und das hört Anna P. sicher nicht gerne –, ist die Wiedereinführung der Wahlpflicht. Tamara Ehs ist nicht überzeugt davon, findet es aber durchaus wert, darüber nachzudenken. «In der Beforschung einiger deutscher Städte hat man beobachtet, dass Parteien links der Mitte besser abschneiden, wenn die Wahlbeteiligung höher ist.» Eine Wahlpflicht würde sich also nicht nur auf die prozentuelle Wahlbeteiligung, sondern auch auf das Ergebnis auswirken. Aber letztlich, meint Ehs, bräuchte es als Anreiz zum Wählengehen schlicht Parteien, deren Politik überzeugend ist. Das Vakuum, das die SPÖ auf ihrem Weg zur Mittelschichtspartei bei Arbeiter_innen und Armutsbetroffenen hinterlassen hat, wäre jedenfalls noch zu haben.
Politik für die Reichen. Demokratie bedeutet hingegen längst nicht nur mitzuentscheiden, sondern auch und vor allem, an den gesellschaftlichen Institutionen und Errungenschaften teilzuhaben. Wenn Politik für Reiche gemacht wird, ist das für die Armen nicht nur uninteressant, sondern es schadet ihnen. «Wir können grundsätzlich davon ausgehen, dass Reiche nicht auf ein solidarisches Gemeinwesen angewiesen sind», sagt Tamara Ehs. «Sie brauchen keine Sozialpflichtversicherung, keine gut ausgestatteten öffentlichen Schulen, und wenn das Erbe stimmt, ist auch egal, ob man langfristig arbeitslos ist.» Das Geld wird dann also in Bereiche gelenkt, die nicht die sozialen Fragen abdecken – wie in der letzten Legislaturperiode vortrefflich zu beobachten war: Eine Wohnpolitik, die dem Immobilienkapital dienlich ist, kann nicht gleichzeitig leistbare Mieten sichern. Eine Bildungspolitik, die Eliten hervorbringen will, kann nicht verhindern, dass Bildung weiterhin «vererbt» wird. Eine Arbeitsmarktpolitik, die den Arbeitgeber_innen steigende Gewinne sichern möchte, kann die Arbeitsrechte der Arbeitnehmer_innen nicht protegieren. Diese konkreten Auswirkungen einer Gesetzgebung von und für Privilegierte machen es zur relevanten Frage, wie viele Menschen mit welcher sozioökonomischen Ausstattung wählen gehen und wie viele nicht. Wobei die Reichen natürlich noch eine weitere Einflussmöglichkeit kennen, so Ehs: «Wenn sie nicht wählen gehen wollen, partizipieren sie eben über Parteispenden.»

Eine Frage der Interessen.

Gernot H. wird nichts spenden und findet auch nicht, dass seine Interessen von irgendeiner wahlwerbenden Partei gut vertreten werden. Aber wählen geht er trotzdem, immer schon, «weil das das einzige Recht ist, das dem Bürger verblieben ist». Das Wahlgeheimnis wahrt er aber: «Was ich am 29. September wähle, sag ich nicht, nur so viel: Blau ist ein Zustand, keine Partei.»
Gernot H. hat einen bürgerlichen Hintergrund, kommt aus Salzburg, ab der Mitte seines Lebens hat er Erfahrungen mit Obdachlosigkeit gemacht. Das hat ihn nie davon abgehalten hat, von seinem Wahlrecht Gebrauch zu machen: «Auch als Obdachloser bist du wahlberechtigt.» (s. Infokasten) Dafür, dass Arme insgesamt seltener wählen gehen, sieht Gernot H. zwei Gründe: «Entweder die Leute kennen sich mit dem Wählen nicht aus, oder sie sind mit den politischen Um- oder Missständen nicht zufrieden.» Was er durchaus verstehen könne, aber gerade darum müsse man doch mitreden: «Wir können eh nix ändern, das ist so eine österreichische Weisheit – aber die stimmt nicht. Man kann sehr wohl was ändern.»
Ginge es nach Gernot H., würde der Soziale Wohnbau auf der Agenda einer Regierung stehen; weniger Bürokratie in der Mindestsicherung und eine sinnvolle Organisierung des Arbeitsmarkts, statt auf Kosten der Sozialpolitik die Schuldenbremse anzuziehen; «ein Miteinander, kein Gegeneinander». Keine allzu opulenten Wünsche an die Politik.
Von den politischen Inhalten, die Menschen vom Wählengehen abhalten, ist in wissenschaftlichen Beiträgen zum Thema auffällig wenig die Rede. Die Gründe fürs Nichtwählen zu erfahren, ist laut Martina Zandonella von SORA auch gar nicht so einfach. «Die Wahlteilnahme ist ein sozial erwünschtes Verhalten, darum fällt es den Menschen nicht so leicht, über ihre Nicht-Teilnahme Auskunft zu geben.»

Armut abschaffen = Demokratie stärken.

Will man die Demokratie stärken, ist «die Verringerung sozioökonomischer Unterschiede eine ganz grundlegende Voraussetzung», sagt Zandonella, und dem stimmt Tamara Ehs zu: «Demokratiepolitik ist immer auch Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.» Denn der eigentliche Sinn vom Wählengehen ist ja nicht der partizipative Akt selbst, sondern «im besten Fall, dass eine Partei an die Macht kommt, die meine Interessen gut vertritt. Und wieso fühlen sich viele Menschen nicht gut vertreten? Weil die Arbeits- und Sozialpolitik nicht in ihrem Sinne ist.» So sei, meint Ehs, und das zeigen auch Studien, der Spruch über «die da oben», die «eh nur tun, was sie wollen» nicht gänzlich ohne Berechtigung. Sparkurs und Korruption sind jedenfalls keine Brückenpfeiler der Demokratie. Schafft man hingegen die Armut ab, was für ein reiches Land wie Österreich im Bereich des Möglichen liegt, so sichert man die Demokratie.
Auch Anna P. ginge durchaus mal wieder wählen, sagt sie, wenn «irgendwer von denen» Politik für die Menschen machen würde, die trotz Erwerbsarbeit arm sind. Aber solange es keine echte Wahl gibt, wozu hingehen? Wirklich «bildungsfern» wirkt diese Entscheidung, die Anna P. jedes Mal aufs Neue trifft, nicht.

 

Wählen ohne Wohnung
Um bei der Nationalratswahl in Wien wählen zu können, braucht man neben der österreichischen Staatsbürger_innenschaft und dem richtigen Alter auch einen Wiener Hauptwohnsitz. Für Wohnungslose ist es möglich, sich eine Hauptwohnsitzbestätigung ausstellen zu lassen: Kontaktadresse kann beispielsweise eine Wohnungsloseneinrichtung, aber auch eine private Adresse sein. Mit dieser Hauptwohnsitzbestätigung wird man ins Wähler_innenverzeichnis eingetragen.

Allerdings hat jede Wahl einen Stichtag für den Eintrag eines Hauptwohnsitzes und die
Erstellung des Wähler_innenverzeichnis: Der war für die kommende NR-Wahl bereits am 9. Juli.

Das Infoblatt «Wahlhilfe für obdachlose Menschen» der Stadt Wien wird von Wohnungsloseneinrichtungen verteilt.

Alle Infos rund um die Wahl:
Stadtservice Wien: (01) 50 255
www.wahlen.wien.at

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