Willkommen im Hoteltun & lassen

Immer mehr Menschen wohnen im Hotel – unfreiwillig und dauerhaft. Mit luxuriösem Lebensstil und Rundum-Service hat das nichts zu tun. Text: Carina Sacher, Foto: Elizabeth Llyod Fladung

Historisch betrachtet war es nicht die Reiselust, sondern die Notwendigkeit von Wohnprovisorien in den rasch anwachsenden Industriestädten, die den Nährboden für die Entstehung unzähliger privater Hotels bildeten. Sie stellten für die nach Arbeit und einer besseren Existenz suchenden Menschen nicht nur Ankunftsorte par excellence dar, sondern boten gleichzeitig ein Sprungbrett in die Stadtgesellschaft. Die Wohnhotels in Nordamerika (Single Room Occupancy Hotels, kurz SRO) und Frankreich (Hôtels meublés oder Garnis) erzählen die Geschichte von Zuwanderung, vom Leben der Arbeiter_innenklasse, von Emanzipation der Frauen und jungen Männern sowie von der kosmopolitischen Vielfalt ihrer Bewohner_innenschaft und der lebendigen Viertel, in denen sie wahre Inseln der bedingungslosen Aufnahme und Integration waren. Sowohl in Paris als auch in New York machten diese Hotels in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwa ein Zehntel der gesamten Wohnungen aus. Mit Ende des Zweiten Weltkrieges und einer erneuten dramatischen Wohnungsnot wurden sie zusehends zum letzten Ausweg vor Obdachlosigkeit und, aufgrund fehlender Alternativen, zu permanenten Wohnräumen unter prekären Bedingungen. Die laufende Erneuerung der Hotelbewohner_innen stagnierte; das wesentliche Ventil der temporären Unterkünfte verstopfte. Die von Öffentlichkeit und Politik stigmatisierten Hotels wurden Opfer von Stadtsanierungsprogrammen der 1960er- und 1970er-Jahre. In kurzen intensiven Perioden fand ein Großteil durch Abriss, Umbau zu Wohnungen und Tourismushotels ihr Ende. Das hinterlassene Vakuum an preiswerten und bedingungslosen Wohnräumen äußerte sich immer wieder in Zeiten von Krisen und Wohnungsknappheit in Form von sichtbarer Obdachlosigkeit.

Bestseller: Wohnraum.

Während Wohnraum in den attraktiven Städten und Global Cities als Bestseller-Ware gehandelt wird, manifestiert sich die soziale Ungleichheit genau hier: im Wohnen, und damit in der sozialräumlichen Struktur unserer Städte. Die globale Finanzkrise von 2007 löste lokal tiefe Wohnungskrisen aus. Die Prekarisierung der Arbeit wird, ohne mit der Wimper zu zucken, weiter vorangetrieben. Die staatliche Verwaltung transformierte sich durch eine disziplinierte Diät der öffentlichen Hand, wie durch den Rückzug aus der Objektförderung und den Verkauf kommunaler Wohnbauten, in vielen Ländern zum bloßen Rettungsdienst. Gleichsam offenbart sich die Not scheinbar in stiller Akzeptanz. Latente Wohnungslosigkeit, die Notwendigkeit zu erhöhter Wohnmobilität sowie steigende Obdachlosigkeit treffen auch die Mittelklasse und in drastischem Ausmaß Familien mit Kindern. Mietzuschüsse (Subjektförderung) für jene, die noch am privaten Wohnungsmarkt verharren, und die Unterbringung in Notunterkünften derer, die bereits ihr Zuhause verloren haben, gehören zu den Erste-Hilfe-Maßnahmen. Die auf eine Odyssee geratenen Menschen verschwinden weitgehend aus dem Blickfeld, im Gegensatz zur Obdachlosigkeit auf der Straße sind sie «unsichtbar».
Es sind längst nicht mehr nur die geschichtsträchtigen Ankunftsstrukturen, wie die SRO-Hotels und Hôtels meublés, sondern heruntergewirtschaftete Tourismushotels mitten in der Stadt, ungenutzte Hotelkomplexe an den Peripherien, Motels entlang der ehemaligen Mobilitätsadern Amerikas, wie auch vermehrt nicht zur Gänze ausgelastete klassifizierte Hotels, die von Toronto bis Dublin zunehmend von Dauergästen bezogen werden. Zu ihnen zählen Erwerbsarme, mittellose Pensionist_innen, Obdachlose, Flüchtlinge, asylsuchende und vermehrt jüngst wohnungslos gewordene Familien. Weltweit ist damit eine uniforme Tendenz zu beobachten, deren Ausmaß zum Großteil im Dunkeln liegt.

Sozialwohnung im Hotel.

Die von den Staaten teuer bezahlte soziale Hotellerie boomt. Mit mehr als 225 Millionen Euro jährlich ist Frankreich in Westeuropa Spitzenreiter der öffentlichen Ausgaben für die Notunterbringung von wohnungslosen Menschen im Hotel. Seit den 1990er-Jahren expandiert der sogenannte soziale Hotelsektor nicht nur quantitativ, sondern auch geographisch, sprich von den Stadtzentren in ihre Peripherien. Der 16-fache Anstieg der Nächtigungen in der Metropolregion Île-de-France von 2005 bis heute, wo täglich über 40.000 Menschen (davon 21.000 Kinder) im Hotel schlafen, ist unter anderem auf höhere Migrationsbewegungen, vermehrte Asylanträge und zunehmende Prekarisierung zurückzuführen. Während die vom Staat beauftragten Organisationen vor einem Jahrzehnt noch neue Plätze in Hotelzimmern, unter anderem in aktiven Tourismushotels mit gemischter Klientel, sicherstellen konnten, ist die Kapazität heute so gut wie ausgeschöpft. Auf einer unsichtbaren Ebene schafft der extensive Rückgriff der öffentlichen Hand auf die alten Hôtels meublés eine Konkurrenz unter den Ärmsten; jenen, die das Hotel als Wohn- oder Übergangsort eigenständig wählen, und jenen, denen das Hotel als temporäre Notlösung zugewiesen wird.
Neben Paris reiht sich seit kurzem Dublin in die höheren Listenplätze der teuersten europäischen Städte ein. Die durch den desaströsen Einschlag der Finanzkrise auf ein bereits weitgehend dereguliertes Land verursachten Wellen ebben nicht ab. 102 Familien wurden im September 2019 allein in Dublin obdachlos. Der Monat verzeichnet gleichzeitig den Höchststand mit 10.397 Ir_innen, die auf Notunterkünfte angewiesen sind. Innerhalb von fünf Jahren stieg die Obdachlosigkeit um 354 Prozent. Zwei Drittel der in Dublin als obdachlos registrierten 1.288 Familien sind in Hotels und Bed-&-Breakfast-Unterkünften einquartiert. Die Kosten, die der Staat hier in den privaten Sektor pumpt, werden auf 50 Millionen Euro im Jahr beziffert, Tendenz steigend. Ein Blick in das Angebot der Airbnb-Plattform verrät, was derzeit in Dublin vor sich geht: Städtetrip-Tourist_innen landen punktuell in den rund 2.850 dem Markt entzogenen Wohnungen, während die etwa 850 wohnungslose Familien in der eigenen Stadt ins Hotel ziehen.

Co-Living als Notlösung.

Ein anderes Paradoxon zeichnet sich in den Städten der kalifornischen Bay Area ab. Nirgendwo sonst in den USA ist Wohnen derart teuer, das Verbleiben für viele unmöglich geworden – nicht zuletzt durch den massiven Zuzug gutverdienender Arbeitnehmer_innen aus dem Silicon Valley auf den Wohnungsmarkt. Obdachlosigkeit ist die sichtbarste Folge. Die ausharrenden, alten SRO-Hotels mit ihrer marginalisierten Bewohner_innenschaft sind dem Druck der «Developer» kaum gewachsen. Gleichzeitig entstehen SRO-Hotel-ähnliche Wohnräume unter dem Branding «Co-Living». Hier werden Einzelzimmer, vergleichbar mit Hotelzimmern, zu monatlichen Mietpreisen von 1.400 bis 2.400 US-Dollar bezogen. Bei durchschnittlichen Mieten für Einzimmerwohnungen in San Francisco von 3.300 US-Dollar ist es kein Wunder, dass diese Angebote bei der digital vernetzten, mobilen und allzeit kommunikativen Sharing-Generation fruchten.
Während viele US-amerikanische Städte für einkommensschwache Haushalte unwirtlich werden, wandeln sich unaufhörlich an anderer Stelle, abgesondert vom urbanen Leben, Transiträume zu De-facto-Wohnräumen. Ehemals pulsierende amerikanische Mobilitätsadern unter leuchtendem Schilderhimmel gehören ebenso der Vergangenheit an wie viele der Motels, die sie säumten. Auf informelle Art und Weise setzte ein schleichender Wandel ihrer Klientel ein. Die obsolet gewordenen Motels sind heute isolierte Heime einer steigenden, von der Gesellschaft ausgeschlossenen und vergessenen Bevölkerung, für die sie eine wesentliche Rolle in der Wüste an zugänglichem und leistbarem Wohnraum einnehmen.

Die ewige Wohnungsfrage.

Der Aufenthalt im Hotel oder Motel, ob aus eigenen Mitteln oder durch öffentliche Gelder bezahlt, erstreckt sich meist über mehrere Jahre und bedeutet das Erstarren in Ungewissheit. Denn der gesättigte Wohnungsmarkt, lange Wartelisten für Sozialwohnungen sowie ungenügend alternative Unterkünfte für Familien und Elternteile mit Kindern machen die Notlösung «Wohnen im Hotel» zum Dasein im chronischen Transit auf engstem Raum. Konfrontiert mit häufigen Ortswechseln und Stigmatisierung, fallen die Sozialisierung und der Schritt zurück in eine Normalität schwer.
Der aus der Not entspringende, neuerlich ansteigende Rückgriff auf Hotels als Wohnraum ist die Blaupause des Kapitalismus und das Echo einer Krise aktueller Politik, die Wohnungslosigkeit nicht ernst genug nimmt und Symptombekämpfung betreibt. Öffentliche Gelder wandern in Form von Mietzuschüssen oder direkt bezahlten Nächtigungen in den Hotelsektor, den privaten Markt. Öffentliche Verantwortung wird übertragen. Friedrich Engels Aussage, dass die Wohnungsnot «nicht etwas der Gegenwart Eigentümliches» und eine wiederkehrende notwendige Institution des herrschenden Systems ist, solange die soziale Frage ungeklärt bleibt, hat ihre Gültigkeit nicht verloren. 150 Jahren nach Publikation seiner Wohnungsfrage ist Wohnen erneut zu eng mit fremdbestimmten wirtschaftlichen Prozessen verwoben. Was ist aus der Idee geworden, Wohnraum und sozialen Status voneinander zu entkoppeln, allen einen qualitätsvollen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, und Wohnen als Menschenrecht zu verteidigen?

Willkommen im Hotel! Echo einer Krise ist zuerst in
dérive – Magazin für Stadtforschung, Nr. 78, Jänner – März, erschienen. derive.at

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