Willkür und Selbstkontrolletun & lassen

Ein Abend im Häferl zum Thema Fehlverhalten der Justiz

Ein Mann klagt nach unfassbaren Fehlhandlungen die Republik. Sein Anwalt erhält die Ladung zur Verhandlung. Der Richter Dr. V., LG f. ZRS Wien, weist den Anwalt an, den Saal zu verlassen. Dann weist er die Klage mit der Begründung ab, der Kläger sei nicht anwaltlich vertreten. Offensichtlich ein Fehlverhalten der Justiz. Die Frage ist nur: Handelt es sich um eine seltene Entgleisung?

Ein zweites Beispiel: Eine Strafgefangene wird bei Antritt und bei Ende der Polizeihaft (vor der Überstellung in die Untersuchungshaft) amtsärztlich untersucht. Die Ergebnisse der Untersuchungen sind jeweils in mit Befund und Gutachten übertitelten amtlichen Schriftstücken festgehalten: Kurz gesagt, die bei Antritt der Polizeihaft völlig unverletzte Gefangene weist an deren Ende unter anderem Schürfwunden, Würgemale, durchgebissene Unterlippe und Hämatome auf. Sie selbst sagt dazu vor dem Untersuchungsrichter aus, dass von ihr namentlich genannte Beamte sie gefoltert und dabei verletzt hatten. Der somit absolut klar belegte Verdacht wurde vom Opfer und verschiedenen Personen zu verschiedenen Zeitpunkten beim zuständigen Staatsanwalt angezeigt, der legte jeweils nach § 90 StPO zurück.

Extreme Entgleisungen in ganz seltenen Ausnahmefällen? Peter Römer, Obmann der Charta97, der hier zitiert wird, behauptet, nein! Die Justiz selbst spreche von eigenem Fehlverhalten in zehn Prozent aller Strafrechtsfälle. Einige Mitglieder der Charta97 befassen sich schon seit zwei Jahrzehnten mit Fehlhandlungen der Justiz und der Exekutive, in denen Menschen ihre Grundrechte verlieren. Sie sind zur Überzeugung gekommen, dass die eingestandenen 10 % nur einen Teil der justizinternen Verfehlungen erfassen. Und die Charta hat klare Vorstellungen davon, wie diesem Missstand Rechnung zu tragen sei. Drei geringfügige Gesetzesänderungen könnten weitgehend Abhilfe schaffen. Sie betreffen den Entscheidungsfreiraum der Staatsanwaltschaft, die Transparenz der Geschworenenprozesse und eine strengere Auslegung des Begriffs Amtsmissbrauch.

So der Kern der Anklage des Rechtsstaats beim Häferl-Jour fixe zum Ausklang des vergangenen Jahres (Anm. d. Red.: Das Häferl ist ein Kommunikationszentrum für Haftentlassene und Freigänger in Wien 6, Hornbostelgasse 6). Staatsanwalt Mag. Geyer hat dem Ankläger vereinbarungsgemäß das erste Wort gelassen. Er hat sich als aufmerksamer Zuhörer erwiesen. Eine Rolle, die er beibehält. Da und dort präzisiert und erklärt er die Gesetzeslage. Die Unzufriedenheit betreffe nicht die Gesetze, sondern das Ergebnis im Umgang mit ihnen, betreffe Fälle, von denen jeder schon abgeschlossen sei und nicht mehr neu aufgerollt werden könne, schon gar nicht hier und jetzt.

Natürlich. Es wird ja auch nicht der Ge-, sondern der Missbrauch der Gesetze kritisiert. Und der wird an einigen wenigen Stellen eben besonders leicht gemacht. Ganze Bücher sind in den letzten Jahren über diesen Missbrauch und über behördliche Gesetzesmissachtung geschrieben worden. Auch der Dokumentarfilm Operation Springs ist inzwischen als DVD im In- und Ausland erhältlich. Eines der erwähnten Bücher Die Geschworene – von Katharina Zara wurde erst im vergangenen Herbst zur Grundlage eines Fernsehfilms, der das TV-Publikum in der kommenden Saison erwartet. Es sind leicht verständliche Bücher in Romanform, die das unverfälschte Aktenmaterial österreichischer Unrechtsfälle verwendet haben. Andere Publikationen enthalten tagebuchähnliche Aufzeichnungen darüber, wie die Exekutive Aufklärungsarbeit verhindert hat, um eigene Fehler zu vertuschen. Das besonders Spannende daran: Einige der AutorInnen sitzen im Publikum. Zum Beispiel die Rechtsanwältin Mag. Wagner, eine hartnäckige Kritikerin des immer noch in Kraft befindlichen austrofaschistischen Geschworenenrechts. Warum ist es nicht längst reformiert worden?

…oder abgeschafft, ergänzt Mag. Geyer, denn ein seriöser Jurist verteidigt nicht, was nicht verteidigt werden kann. Stattdessen relativiert er und weist darauf hin, dass Geschworenenprozesse in vielen Rechtsstaaten überhaupt nicht mehr existieren. Sie seien generell ein diskussionsbedürftiges Rechtsmittel, weil das Laienurteil zwar einmal durch Berufsrichter aufgehoben und der Fall einem neu zusammengesetzten Geschworenengericht zugeführt werden könne, dieser zweite Laienspruch dann aber in jedem Fall unwiderrufbar sei. Die Gefahr, dass Laien zu einem Fehlurteil kommen, sei aber keineswegs geringer, als jene von Irrtum oder Willkür seitens der Berufsrichter.

Urteil unter der Tuchent beraten

Dagegen kann man nichts sagen. Es bleibt aber das Fakt der weltweit einmaligen Geheimniskrämerei im bestehenden Recht. Die Rechtsbelehrung der Laienrichter findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Das Urteil wird also, wienerisch gesprochen, unter der Tuchent beraten und kein Laie könnte im Unrechtsfall richterlicher Willkür entgehen. Damit nicht genug. Wie der Rechtsanwalt und Universalgelehrte DDDr. Langmayr zu bedenken gibt, steht in der schriftlichen Fassung des Urteils nichts darüber, wie das Gericht zur Überzeugung über den Sachverhalt gelangt ist, insbesondere darüber, dass der Verurteilte wirklich der Täter ist. Es heißt dort nur, die Feststellung des Sachverhalts gründet sich auf den Wahrspruch der Geschworenen. Alles, was es da gibt, sind einerseits die Beratungsprotokolle, in denen aber nur steht, wie viele Geschworene für den Wahrspruch gestimmt haben und wie viele dagegen. Und andererseits gibt es die schriftlich niedergelegten Erwägungen der Geschworenen. Aber sowohl Beratungsprotokoll als auch Erwägungen befinden sich in versiegelten Briefumschlägen im Gerichtsakt. Sie sind dem Verteidiger weder im Rechtsmittelverfahren noch dann zugänglich, wenn es um spätere Wiederaufnahme geht. …

Eine Gerichtsbarkeit, die sich ihrer eigenen Lauterkeit gewiss ist, sollte Transparenz nicht scheuen. Mag. Wagner weiß aber das genaue Gegenteil zu berichten. Jede Auskunft über das Zustandekommen des Wahrspruchs, auch lange nach dem rechtskräftigen Ausgang des Prozesses, ist mit Strafe bedroht, und zwar auch dann, wenn sie ausschließlich im Dienste der Rechtspflege erfolgt, also zum Beispiel für das Erstellen einer wissenschaftlichen Arbeit. Wird diese Auskunft einem Rechtsanwalt erteilt, so wird dieser mit einem Strafverfahren bedroht, das mit Berufsverbot und Entzug seiner Existenzgrundlage enden kann. Hat die österreichische Justiz ein so schlechtes Gewissen, dass sie derart mauscheln und dieses Mauscheln derart vehement beschützen muss?

Wo liegt die Grenze zwischen Selbstkontrolle und Vernaderung?

Mag. Geyer beschönigt nicht. Er gibt lediglich zu bedenken, dass das Geschworenenrecht in den demokratischen Rechtsstaaten relativ selten geworden ist, und dass in Österreich überhaupt nur in 1 % aller Strafprozesse ein Geschworenengericht einberufen werde. Er weist nicht zurück, er ist ein überaus fairer Zuhörer, was die Diskussion bei aller Emotionalität sachlich bleiben lässt. So bleibt auch nicht unerwähnt, dass die Justiz sich ihrer eigenen Fehlbarkeit durchaus bewusst ist. Sie hat im 20. Jahrhundert begonnen, Reformen durchzuführen, die bis dahin nicht für möglich gehalten worden waren. Alternativen zur Gefängnisstrafe bis hin zum Außergerichtlichen Tatausgleich wurden geschaffen, der Instanzenweg bis zu internationalen Gerichtshöfen erweitert, Amtshaftungsgesetze erlassen und interne Kontrollinstanzen ins Leben gerufen, wie zuletzt das BIA. Mag. Geyer erklärt es für die Laien: ein Büro für interne Angelegenheiten. Ein Polizeiapparat zur Überwachung der Polizei. Und hier wird auch das Ende der Möglichkeiten einer Selbstkontrolle deutlich. Wo liegt die Grenze zwischen der Sauberhaltung der eigenen Arbeit und der unkameradschaftlichen Vernaderung? Wo endet Kontrolle und wo beginnt Bespitzelung? Sie ist nicht wirklich zu ziehen. Aber der Istzustand entspreche einem ausgesprochenen Korpsdenken, wendet Berufsdetektiv Pöchhacker ein, der sich bei der Häferldiskussion ebenfalls im Publikum befindet. Wem es entgangen sein sollte: Er ist der Autor des Buches Der Fall Natascha, das zu einem Zeitpunkt geschrieben worden ist, da Natascha Kampusch noch vermisst und von vielen tot geglaubt war. Sein Bericht ist eine akribische Beschreibung von Verdachtsmomenten gegen die Exekutive, Verdacht auf Sabotage zielführender Ermittlungen aber auch Verdacht auf die Einflussnahme mächtiger Privatpersonen auf Wahrheitsfindungsprozesse in höchsten Polizeikreisen. Pöchhacker macht sich mit seiner Kritik seinen Job und sein Leben nicht gerade leichter, aber wie viele im Saal liegt ihm viel an einem vertrauenswürdigen Rechtsstaat. Und wenn es um die Aufklärung von Verbrechen an Kindern geht, sind er und seine Familie bereit, Opfer zu bringen. Wie große Opfer, ist im zitierten Buch nachzulesen.

Staatsanwalt Geyer weist nochmals darauf hin, dass die vorgebrachten Unrechtsfälle hier nicht neu verhandelt werden können. Er informiert aber die anwesenden Laien eingehend über Rechtsmittel, die rechtsbehördlicher Willkür Grenzen setzen können. So steht zum Beispiel dem Volksanwalt übrigens als einziger Instanz das Recht zu, der Verteidigung auch Einblick in versiegelte Schriftstücke des Gerichts zu verschaffen. Ob das innerhalb der vier Wochen Rechtsmittelfrist immer möglich ist, bleibt offen. Was den Paragraphen 90 der StPO anbelangt, so kann die Ablehnung eines Verfahrens nach Punkt l, Absatz 3 innerhalb von zwei Wochen beeinsprucht werden. Dann entscheidet das übergeordnete Gericht über Aufnahme oder nicht. Allerdings ist dort der Instanzenweg zu Ende. Geschworenenprozesse betreffen Delikte, die mit hohen Freiheitsstrafen bis hin zu lebenslangem Gefängnis bedroht sind. Staatsanwalt Geyer wird darauf hingewiesen, dass es auch bei lebenslanger Haft keine Aufbewahrungspflicht für Beweisstücke gibt. Er bestreitet es nicht, gibt aber zu bedenken, dass ganz Österreich inzwischen ein Kriminalmuseum wäre, würde man jedes Beweisstück aufbewahren. Das steht außer Zweifel. Es werden aber in aller Regel auch winzige Gegenstände, wie Projektile und Stoffetzchen, welche die Unschuld eines mutmaßlichen Schützen in einer neuerlichen Beweiswürdigung ergeben könnten, meist sofort nach der Hauptverhandlung vernichtet. Das lässt nicht nur die lebenslange Haft Unschuldiger zu, es erklärt auch die kriminologischen Wissenschaftler zu Deppen, denen die Fähigkeit abgesprochen wird, die Untersuchungsmethoden an materiellen Beweisstücken entscheidend zu verfeinern.

Schließlich gibt es noch einen besonders heiklen Punkt, den ausführlich zu diskutieren aber alle Anwesenden nach dieser langen, mit ununterbrochen gespannter Aufmerksamkeit erfolgten Teilnahme am Ende schon zu erschöpft sind. Wird ein Angeklagter z. B. in einem Geschworenenprozess zu bedingter Maßnahme nach § 21. 1 StGB verurteilt, und aus der Aktenlage ergibt sich einwandfrei seine Unschuld, so befindet sich die Verteidigung in einer Art Geiselhaft. Entweder sie schöpft die Rechtsmittel aus dann riskiert sie, dass nach neuerlicher Begutachtung aus der bedingten Einweisung in die Maßnahme eine unbedingte wird (was in Extremfällen zu lebenslangem Freiheitsentzug für relativ geringfügige Delikte führen kann!), oder sie nimmt einen zu Unrecht erfolgten Schuldspruch in Kauf. Diese Rechtslage ist keine österreichische Besonderheit, sollte aber im österreichischen Recht trotzdem dringend weiter – und mit größerer Reformbereitschaft – diskutiert werden.

Positives, Negatives

In einer kleinen Nachschau sei eine kleine Auswahl von Punkten des Lobes und der Kritik am Rechtssystem festhalten.

Positiv zu vermerken ist:

  • Es gibt einen Berufungsweg, sogar über die Staatsgrenzen hinaus
  • Es gibt Alternativen zur Freiheitsstrafe
  • Es gibt eine politisch unabhängige Richterschaft
  • Es gibt eine Selbstkontrolle der Exekutive
  • Es gibt eine ständige Reformbereitschaft der Justiz

Dem gegenüber stehen sehr massive Kritikpunkte:

  • Der Freibrief für juristische Willkür im § 90 StPO bedarf einer Einschränkung.
  • Das diktatorische Relikt des Geschworenengesetzes ist schlicht demokratieunwürdiges, gesatztes Unrecht!
  •  Es gibt keine ausreichend effiziente externe Kontrolle der Exekutive. Interne Kontrollen sind nur bedingt für den Selbstreinigungsprozess geeignet.
  • Es gibt auch in schwerwiegenden Fällen für die Gerichte keine Aufbewahrungspflicht für Beweisstücke
  • Es gibt nicht genug Transparenz (nicht einmal durch Rechtsauflagen kontrollierte Anfertigungen von Fotos oder Videoaufzeichnungen bei Gericht und Polizeiverhören)
  • Die Reformbereitschaft ist in manchen Bereichen so gering, dass sie einige absolut uneinsehbare Misstände seit vielen Jahrzehnten verschleppt (Geschworenenrecht, Maßnahmerecht, …)
  • Es gibt eine Benachteiligung der Strafverteidigung gegenüber den anderen Rechtsinstanzen.

Ein pikanter Nachsatz: Der ORF teilt mit, dass nicht Erwin Steinhauer die Medienrechte des an das Buch Die Geschworene angelehnten Films besitzt. Ein Herr Grasser habe diese Rechte erworben. Dazu die Charta97: Von wem eigentlich? Denn die alleinigen Rechte befinden sich nach wie vor bei uns.


Literatur zum Text:

Katharina Zara, Die Geschworene. Eine wahre Geschichte von Mord, Intrige und Befreiung. C.H. Beck Verlag (Taschenbuch – September 2002) Grundlage für einen Fernsehfilm 2007.

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