«Wir brauchen eine Kultur des Hinschauens»Boulevard-Blog

Boulevard-Blog vom 19.04.2023

In schwierigen Situationen eingreifen, seine Werte verteidigen, andere schützen: Das sollte selbstverständlich sein, fällt aber vielen schwer. Wir haben bei der Soziologin Christiane Atzmüller und beim Verein ZARA nachgefragt, wann es Zivilcourage braucht und wie man zivilcouragiertes Handeln trainieren kann.

Vor knapp einem Monat kam es in der Nähe der Wiener U-Bahn-Station Jägerstraße zu einem schweren sexuellen Übergriff. Weil ein Augenzeuge spontan eingeschritten ist und den Täter verfolgt hat, konnte dieser anschließend gefasst und die Tat zur Anzeige gebracht werden. Solch zivilcouragiertes Handeln kann Verbrechen aufdecken, sie verhindern – und manchmal sogar Leben retten. Doch Zivilcourage ist nicht nur im realen Leben gefragt.

Zivilcourage ist Mut

Der Verein ZARA, der österreichweit Zivilcourage- und Anti-Rassismus-Arbeit leistet, definiert den Begriff Zivilcourage mit Mut. Der Mut, in unangenehmen Situationen in der Öffentlichkeit einzugreifen. Eingreifen kann in diesem Zusammenhang vieles bedeuten. Zum Beispiel, dass man nicht wegsieht, Betroffenen Unterstützung anbietet, Vorfälle dokumentiert und Unterstützung holt. Wichtig ist dabei, stets die eigenen Grenzen und Fähigkeiten zu berücksichtigen. Es ist vollkommen okay, mit schwierigen Situationen überfordert zu sein. Es gilt außerdem auch den Wunsch der Betroffenen zu erkennen und danach zu handeln – was auch nicht immer ganz eindeutig ist.

«Grundsätzlich ist das Eingreifen Dritter nicht nur bei physischen Gewaltdelikten, sondern eigentlich immer dann gefragt, wenn die Würde eines Menschen oder gesellschaftliche Werte nicht berücksichtigt werden», erklärt Christiane Atzmüller. Sie forscht an der Universität Wien zu Zivilcourage unter Jugendlichen. In ihrem Projekt «Zivilcourage 2.0» geht es vor allem um Zivilcourage, die online stattfindet. Die Bereitschaft einzugreifen, ist in der Öffentlichkeit des Internets um einiges geringer als in jener des realen Lebens, stellte die Soziologin fest.

Online fehlt die Motivation

«Mit Zivilcourage ist seitens der eingreifenden Personen auch immer das Gefühl verbunden, dass man was Gutes tut – und vielleicht sogar heldenhaft agieren kann. Sowas stellt sich im Internet meist nicht ein», so Christiane Atzmüller. In Online-Situationen habe man schließlich das Gefühl, nur im Nachhinein aktiv werden zu können, wenn der Übergriff schon längst passiert sei. «Meistens ist es auch so, dass die Leute, die online übergriffig sind, nicht damit aufhören, wenn sie darauf hingewiesen werden oder sich gar entschuldigen. Es gibt sozusagen keine:n Gewinner:in oder Verlierer:in, wie das im echten Leben oft der Fall ist. Sondern die, die versuchen einzugreifen, werden oft selbst zu «Verlierer:innen», weil sie selbst schnell zum nächsten Opfer werden können.» Dieser Fakt würde viele davon abhalten, online ebenso zivilcouragiert zu handeln wie offline.

«Der Ausgang eines zivilcouragierten Einsatzes ist aber auch im realen Leben oft ungewiss und die zivilcouragierte Person nimmt bewusst Nachteile in Kauf», sagt Ramazan Yıldız vom Verein ZARA. Vor allem, wenn zwischen den beiden Parteien ein Machtungleichgewicht besteht, sei es oft schwer, für die eigenen Werte einzustehen und einzugreifen. Es hemme eine:n, wenn etwa der/die Chef:in rassistische Witze mache und man ihn/sie darauf hinweisen möchte, dies zu unterlassen. Es sei daher zusätzlich zum privaten Umfeld besonders wichtig, zivilcouragiertes Handeln auch im Arbeitsumfeld oder in der Schule zu fördern.

Eine Kultur des Hinschauens

«Vor allem öffentliche Diskurse über Diskriminierung sind wichtig, damit die Gesellschaft sensibilisiert und aufgeklärt wird. Wir brauchen eine Kultur des Hinschauens. Auch bei Hass im Netz ist das Wissen, dass es sich dabei oft um strafrechtlich relevante Tatbestände handelt, nach wie vor nicht bei allen angekommen», fährt Ramazan Yıldız fort. Christiane Atzmüller sieht die Erwachsenen stark in der Verantwortung. Sie müssten den jungen Menschen zeigen, dass sich Empathie und engagiertes Verhalten auszahlen und zu einer lebenswerteren Gesellschaft beitragen. Vor allem online sei das noch nicht der Fall: «Viele differenzieren und sagen: Im echten Leben würde ich da schon was machen, aber im Internet nicht», so die Soziologin.

Dabei sei es online um ein Vielfaches «einfacher», andere Menschen zu diffamieren und anzugreifen. «Es sind oft nahezu unkontrollierbare Prozesse, die hier passieren. Es gibt verschiedene Mittel, mit denen gearbeitet wird: Kommentare, Bilder und Videos. Die Eigendynamik der Verbreitung stellt eine große Belastung für die Betroffenen dar, auch, weil es von vielen Seiten und rund um die Uhr passiert.» Daher sei hier das Eingreifen Dritter besonders wichtig, um diese Prozesse zu verlangsamen oder zu stoppen.

Melden, Blockieren, Moderieren

In den Sozialen Netzwerken können unangebrachte Kommentare, Bilder und Videos von jedem:r User:in relativ unkompliziert gemeldet und blockiert werden. «Was wir beobachten, ist, dass diese ganzen Filter, die dafür eingesetzt werden, zwar recht gut funktionieren, aber eben nicht ausreichen. Denn Hass verschwindet ja nicht, nur weil ein Kommentar gelöscht wird. Also da braucht es auf jeden Fall eine Kombination aus verschiedenen Mechanismen», meint die Projektinitiatorin. Bei großen Accounts werden die Kommentare von eigenen Moderator:innen überprüft. «Das ist gut so, aber funktionieren kann das alles nur, wenn auch die Community zivilcouragiert handelt.»

Richtig Helfen lernen

Das sei vor allem für junge Menschen oft gar nicht so einfach umzusetzen, erzählt Christiane Atzmüller: «Oft sind schnelle, schlagfertige Reaktionen gefragt. Dafür braucht man aber gewisse Basiskompetenzen. Das hat auch viel mit Bildung zu tun. Unsere Studie zeigt, dass Jugendliche mit höherer Bildung deutlich besser sind im Kontern und Reagieren als Jugendliche mit geringeren Bildungschancen.» Hier müsse man ansetzen und mit Workshops und Lehrgängen Kompetenzen bilden. Dabei gäbe es nicht immer diese eine Lösung, die funktioniere, sagt die Soziologin: «Sondern es geht vielmehr darum, überhaupt einmal zu versuchen zu reagieren, auch ohne aggressive Gegenattacken.» Digitale Grundbildung als eigenes Schulfach wäre wichtig, um einen gesellschaftlichen Umgang im Internet zu trainieren.

Wer sich online nicht in die Schusslinie begeben wolle, der könne auch privat Hilfe leisten, in dem man zum Beispiel dem/der Betroffenen eine unterstützende Nachricht schreibe. Wenn man der Person im realen Leben begegne, dann könne man aber natürlich auch offline helfen. Eine ehrliche Umarmung würde viel bewirken – und sei für Jugendliche auch oft leichter umzusetzen als Gegenrede, erklärt Soziologin Atzmüller.

Professionelle Hilfe als Teil von Zivilcourage

Wer sich in brenzligen Situationen im realen Leben nicht traut, direkt einzugreifen, kann auch im Hintergrund viel bewirken. Zivilcourage zeigen geht beispielsweise auch in Form eines Notrufs. Im Fall des sexuellen Übergriffs in der Jägerstraße verweisen die Wiener Linien etwa auf die Notsprecheinrichtungen in den Fahrzeugen und Stationen. Durch sie werden Mitarbeitende der Wiener Linien alarmiert und können einschreiten. Im Zweifelsfall sei es immer ein Notfall, betonen die Wiener Linien.

Betroffene von Hass im Netz und Rassismus können sich direkt an den Verein ZARA wenden. Dort wird man kostenlos, vertraulich und wenn gewünscht auch anonym beraten und gegebenenfalls auch juristisch unterstützt.

Weiterführende Links:

Informationen zu Meldungen von Hassnachrichten und Diskriminierungserfahrungen gibt es unter: https://www.zara.or.at/de/beratungsstellen

Zara bietet Trainings zum Thema Zivilcourage an: https://www.zara.or.at/de/training

Das Projekt «Zivilcourage 2.0» von Soziologin Christiane Atzmüller kann man hier einsehen: https://zivilcourage.univie.ac.at/

Foto: ZARA