Autos stehen im öffentlichen Raum herum – das ist für die meisten selbstverständlich. Was heißt Verteilungsgerechtigkeit, wenn’s um Verkehrsflächen geht? Und ist Radfahren nur für Bobos? Ein Gespräch mit Irene Bittner vom VCÖ.
Interview: Lisa Bolyos
Foto: Carolina Frank
Radfahren gilt fast schon als geschütztes Kulturgut von Grünwähler_innen, ein gutes Lastenrad kostet so viel wie ein Kleinwagen. Wie ist das Verhältnis von Fahrrad und Klasse?
Das ist ein Klischee. Im Gegenteil: Radfahren ist neben dem Zu-Fuß-Gehen die klassenübergreifendste Form der Mobilität, die von allen Altersgruppen und allen Gesellschaftsschichten genutzt wird. Dass Radfahren zum Lifestyle erklärt wurde, hat einerseits mit einer boomenden Green Economy und bestimmten Markenrädern zu tun, andererseits damit, dass es medial oft «szenig» transportiert wird. Grundsätzlich ist Fahrrad fahren eine Mobilität, die auch bei niedrigem Einkommen leistbar ist. Ein Second-Hand-Rad kostet nicht viel, es gibt Sharing-Angebote und Citybikes. Gerade bei Lastenrädern geht der Trend auch zum Teilen, wie beispielsweise beim Grätzlrad in Wien.
Auch die Wohngegend bestimmt, wie gut die Infrastruktur für klimafreundlichen Verkehr ausgebaut ist. Beißt sich die Katze in den Schwanz, wenn in einkommensarmen Grätzln weniger Fahrradwege gebaut werden?
In dicht bebauten Bezirken Wiens, die nicht gentrifiziert sind, ist sicher auch die Radinfrastruktur weniger gut ausgebaut. Das betrifft zum Beispiel große Teile des 10., 16. oder 17. Bezirks, aber es betrifft auch die sogenannten Flächenbezirke mit einkommensstärkeren Haushalten, in denen nicht kompakt und eher suburban gebaut wurde und viel Auto gefahren wird. Die Stadtpolitik ist gefragt, darauf zu achten, dass nicht nur jene Bezirke weiter aufgewertet werden, in denen die Immobilienpreise ohnehin schon hoch sind, sondern Fuß- und Radwege gerade Einkommensschwachen zugute kommen, ohne dort die Mietpreise mit Aufwertungen in die Höhe zu treiben.
In der aktuellen VCÖ-Publikation «Mehr Platz für bewegungsaktive Mobilität» ist zu lesen, dass nur 6 Prozent der Jugendlichen in Österreich mit dem Fahrrad zur Schule fahren. Das kann man unsportlich finden, aber wieso sollte ich mein Kind zwischen parkenden Autos und rasenden SUVs Fahrrad fahren lassen wollen?
Kinder werden in einem autofokussierten Verkehrssystem in ihrer Mobilität eingeschränkt. Eine hohe Anzahl von Kindern und Jugendlichen, die mit dem Fahrrad fahren, ist ein Zeichen für die hohe Qualität eines Verkehrssystems.
Wien ist hingegen durchaus ein Vorbild bei den Schulstraßen. In einem bestimmten Umkreis von Schulen dürfen zu gewissen Zeiten keine PKWs fahren. Wenn Eltern nicht mehr direkt vor der Schule parken und rangieren dürfen, gehen auch die Unfälle zurück. Eine andere Möglichkeit zur Steigerung der Sicherheit ist Tempo 30 im Ortsgebiet und die Ausweitung und Umgestaltung von Begegnungszonen oder Wohnstraßen, sodass die spielenden Kinder vom Verkehrsschild dort auch Realität werden.
Mehr Platz für bewegungsaktive Mobilität würde auch bedeuten, dass man Flächengerechtigkeit zum Thema macht. Dem motorisierten Verkehr steht in unseren Städten sehr viel Raum zur Verfügung, dem Radfahren und dem Fußgehen zu wenig.
Was hindert Wien daran, ganze Fahrbahnen dem Radverkehr zu widmen?
Im Grunde ist es eine politische Entscheidung, die getroffen werden müsste, und es gibt gewisse Ängste, die Autoinfrastruktur zu ändern. Aber es ist auch ein gesamtgesellschaftliches Problem, dass es als fast schon naturgegebenes Recht gilt, Autos im öffentlichen Raum gratis zu parken. Früher wurden nicht die Fußgänger_innen, sondern die Pferdefuhrwerke eingeschränkt, man durfte sie nicht im öffentlichen Raum abstellen. Mit dem Voranschreiten der Motorisierung ist es gefährlicher geworden auf der Straße, die Fußgehenden wurden an den Rand gedrängt, sie mussten den Gehsteig verwenden. Fordismus, Fortschrittsgedanke, Wirtschaftswunderjahre: Das Auto wurde zum Statussymbol, und diese Entwicklung beschäftigt uns bis heute.
Die Stadt ist voller Straßen, die für Autos gebaut wurde. Was machen wir mit denen, wenn wir nur noch Fahrrad fahren?
Wir haben eine Klimakrise zu bewältigen, Verkehr ist in Wien der größte Verursacher von CO2. Wenn Infrastrukturen zur Verfügung gestellt werden, werden sie genutzt; gebe ich also Fußgänger_innen und Radfahrenden mehr Platz, dann werden den auch mehr Menschen in Anspruch nehmen. Für eine klimaverträgliche Zukunft sollte auch stärker über den Rückbau von Autobahnen oder generell der fossilen Verkehrsstruktur nachgedacht werden: In Wien sind alle innerstädtischen Entwicklungsgebiete ehemalige Bahnflächen, warum nicht mal andenken, dass eine Autobahn aufgelassen wird und dort ein neues Stadtentwicklungsgebiet entsteht?
Der Autoneukauf bleibt nicht nur durch sich wiederholende Varianten von Verschrottungsprämien attraktiv, die Modelle werden auch immer größer. Könnten SUVs nicht einfach verboten werden?
Die Autos wurden in den vergangenen 15 Jahren schwerer, breiter, PS-stärker, gleichzeitig sinkt der sogenannte Besetzungsgrad: Im Schnitt sitzen in 100 Autos nur 115 Personen. Und die Richtlinien werden an die neuen Autogrößen angepasst: Im Wohnbau etwa werden Tiefgaragenplätze inklusive Rangierfläche mit 30 m2 je Stellplatz berechnet, bis vor wenigen Jahren waren es noch 25 m2. SUVs sind für andere Verkehrsteilnehmer_innen alles andere als sicher. Die Türbreiten machen Dooring zu einer größeren Gefahr, und ein kleines Kind auf der Fahrbahn kann man man bei einem hohen Heck von innen schwerer sehen. Dazu kommt, dass die meisten SUVs Dieselfahrzeuge sind, also besonders gesundheitsschädlich. Wobei man auch mit dem Umrüsten auf neue Antriebe und sogenannten Null-Emissions-Fahrzeugen die Platzfrage mit immer größer werdenden Autos nicht lösen wird.
Elektromotoren werden immer noch als Weg aus der Klimakrise verkauft. Sollen wir jetzt E-Autos fahren oder nicht?
Grundsätzlich empfiehlt der VCÖ: erstens, Verkehr vermeiden; zweitens, auf den öffentlichen Verkehr und bewegungsaktive Mobilität verlagern; und erst an dritter und letzter Stelle kommen technologische Lösungen, wie etwa emissionsfreie Antriebstechnologien.
Dass eine hohe Arbeitslosigkeit den Pendler_innenstau auf der Tangente löst, ist fürs Klima schön, für die Betroffenen nicht. Was kann man aus der Krise für die Verkehrspolitik lernen, ohne zynisch zu werden?
Durch die Covidkrise ist sichtbar geworden, dass wir vor allem im Nahbereich auf öffentlichen Raum sehr stark angewiesen sind. Warum wir zuhause sind – Homeoffice, Arbeitslosigkeit, Kinderbetreuung –, ist in diesem Zusammenhang zweitranging. Ich brauche im näheren Umfeld öffentlichen Raum, um rauszugehen, soziale Kontakte zu pflegen und mich zu bewegen, und ich muss dabei Abstand halten können. In Wien sind fast 40 Prozent der Gehsteige nicht mal zwei Meter breit, teils ragen von Schrägparkern noch die Autohecks rein, Verkehrstafeln, Hydranten, alles, was nicht auf der Fahrbahn die Autos stören darf, steht am Gehweg herum. Das ist für Verkehrsexpert_innen ein altes Thema, das jetzt sehr deutlich sichtbar geworden ist: Wir haben zu wenig Platz für die gesunde und klimaverträgliche Mobilität. Das können wir mitnehmen.
Welche Infrastruktur braucht eine Gesellschaft, um eine Verkehrswende zu schaffen?
Zersiedelung führt automatisch zu mehr KFZ-Verkehr, da können kompaktes Bauen, wiederbelebte Ortskerne und ein Ausbau von Sharing-Konzepten und öffentlichem Verkehr mit Unterstützung durch kleinere Anbieter helfen. Man muss eine Mobilitätsgarantie herstellen, die nicht auf den Besitz eines privaten PKWs beruht. Im Güterverkehr muss man die Schieneninfrastruktur forcieren, es gibt viele Betriebsanschlussgleise, die reaktiviert werden können. Und wenn neue Gewerbezonen entstehen, muss es Anreize oder Gebote für einen Bahnanschluss geben – nicht nur einen Autobahnanschluss.
Können Sie positive Beispiele der Entwicklung von Verkehrswegen in der Stadt und am Land nennen?
In Wien sind die Meidlinger Hauptstraße und die Bloch-Bauer-Promenade im Sonnwendviertel Beispiele einer gelungenen Gestaltung, weil sozialräumliche Fragen mitbedacht wurden. Im ländlichen Raum fällt mir die Gemeinde Göfis in Vorarlberg ein: Der Dorfplatz war ein großer Autoparkplatz, das Zentrum ist mehr und mehr ausgestorben. Dann wurde entschieden, das Zentrum autofrei zu machen, jetzt gibt es dort Sitzplätze, eine öffentliche Bibliothek mit Gemeinschaftsraum, wo man konsumieren kann, aber nicht muss. Eine kleine Grünfläche wurde geöffnet – das ist ein sehr gutes Beispiel dafür, was eine kleine Gemeinde machen kann.