«Wir brauchen Sicherheitsgurte im Internet»tun & lassen

Der digitale Humanismus stellt den Menschen in den Mittelpunkt der Technologie-Entwicklung. Dafür plädiert Gerti Kappel, Dekanin der Fakultät für Informatik an der TU Wien. Ein Nachdenken über Grenzen und ethische Prinzipien im digitalen Raum.

INTERVIEW: ELISABETH KLING
FOTO: CAROLINA FRANK

Digitaler Humanismus, eine Schnittstelle zwischen Technologie und ­Gesellschaft. Was ist genau darunter zu verstehen?
Gerti Kappel: Seit 1990 gibt es das World Wide Web, den Browser in die weite Welt, zu allen Informationen. Das Internet, als darunterliegendes technisches Protokoll, gibt es ja schon seit den 1960ern. Heute hat jeder und jede von überall darauf Zugriff und es dient als Grundlage für unser Leben im 21. Jahrhundert. Das hat aber unser Zusammenleben und -arbeiten und unser Agieren als Gesellschaft für immer verändert. So praktisch es ist, ständig alle Informationen abrufen zu können, hat diese «Informatisierung» auch viele potenziell negative Auswirkungen. Wir brauchen nur an die Angreifbarkeit digitaler Systeme zu denken. Uns muss klar sein, dass wir durch das Abrufen digitaler Dienste das System auch konstant mit unseren Daten füttern, beim Online-Shopping zum Beispiel. Wir können auch nicht wirklich gratis auf Informationen zugreifen, weil nichts gratis ist. Der Ausdruck «Entweder zahle ich für das Produkt oder ich bin das Produkt» trifft genau hier zu. Wir sind das Produkt von ­Google, weil wir mit unseren Daten, die wir bewusst oder unbewusst ständig bekanntgeben, bezahlen. Und wie steht es mit der Datensouveränität? Wissen wir, wo unsere Daten gespeichert sind? Liegen sie in Datenfarmen der «Big five» (Google, Amazon, Apple, Microsoft, Facebook) oder werden die dort verwaltet, wo sie anfallen und wo entsprechend nationale und internationalen Gesetze respektiert werden?
Auch Überwachung, Meinungsverbreitung durch die Sozialen Medien, Filterblasen und Fake News gehören zu den negativen ­Aspekten. All diesen Entwicklungen versucht der ­Digitale Humanismus entgegenzuwirken, Antworten bereitzustellen auf potenzielle und reale Bedrohungen, denen wir ausgesetzt sind. Mit ­einer Gebotsliste beziehungsweise Handlungsempfehlungen, die wir als Gesellschaft im 21. Jahrhundert heranziehen können, um Informationstechnologie positiv für uns zu nutzen.

Es geht also um Regeln im digitalen Raum sowie um Information und Aufklärung?
Ja, und ums wieder Nachdenken über die Bedürfnisse, die wir mit Technologie erfüllen wollen. Technologie soll dem Menschen dienen, nicht umgekehrt. Wir lenken das Auto Technologie, das die Gesellschaft ­irgendwo hinbringen soll. Im Digitalen Humanismus steht der Mensch mit seiner Integrität im Mittelpunkt, mit seinen Bedürfnissen und Möglichkeiten, seiner Souveränität und seiner Würde. Wir müssen uns Gesetze selbst formulieren und humanistische Prinzipien auch im Digitalen anwenden. Unser moralisches Verständnis lässt uns zwischen Recht und Unrecht unterscheiden, was im Realen nicht richtig ist, ist auch im Digitalen falsch.

Das Wiener Manifest für Digitalen Humanismus ist 2019 an der TU entstanden. Es versteht sich als Aufruf zum Nachdenken und Handeln angesichts der aktuellen und zukünftigen technologischen Entwicklung. Wie kam es dazu?
Unter meinem Vorgänger Hannes ­Werthner hat sich die Fakultät für Informatik ein International Advisory Board zugelegt. Bei einem Treffen höchst anerkannter internationaler Wissenschaftler:innen im Spätherbst 2018 wurde der Umgang der Gesellschaft mit Infor­mationstechnologie diskutiert. Wir müssen unsere Studierenden entsprechend ausbilden. Technologie ist nicht wertfrei. Es gilt zu überlegen, wie Technologie gebaut und eingesetzt werden soll. Welche Möglichkeiten es gibt, auf Dinge hinzuweisen, Daten richtig einzusetzen. An einem dieser Tage kam dann der Begriff des «Digitalen Humanismus» aufs Tablett. Der Wiener Kreis, mit der Etablierung der Logik in den [19]20ern und 30ern, hat uns zur Gründung einer Neuauflage inspiriert. Ein neuer ­Wiener Kreis, der sich wissenschaftlichen Grundlagen im Lichte der Informationsgesellschaft widmet. Im April 2019 wurden die Gebote des «Vienna Manifest on Digital Humanism» konkretisiert und verabschiedet. Parallel mit der Bewegung, die von Wien ausging, publizierte man auch an der Ludwig-Maximilians-Universität München zu diesem Thema.

Die Zeit war also reif?
Absolut. Als Lehrende liegt es natürlich in unserer Verantwortung, die Studierenden auf die Macht der Werkzeuge hinzuweisen, die wir unterrichten. Gerade, was die ethischen Auswirkungen betrifft. Das ist allerdings nichts Neues. Schon 1985 gab es einen Lehrstuhl «Technologie – Folgenabschätzung» an der Fakultät für Informatik. Damals wurden diese Themen allerdings als «Soft Skills» ­belächelt. Glücklicherweise ist das heute nicht mehr so und Überlegungen zu den Auswirkungen stehen nicht mehr im Widerstand mit «Hardcore»-Technik. Sie zu lehren, liegt in unserer Verantwortung, egal wie «hardcore» wir sind. Unterrichten wir Algorithmen, gilt es zu überlegen, ist dieser Algorithmus transparent? Wie geht er mit Daten um? Woher kommen ­diese Daten überhaupt? Und vieles mehr. ­Heute überlegt man, Ethik als eigenes Fach anzubieten oder «embedded ethiCS», also eingebettete ethische Überlegungen in den einzelnen Fächern, zu integrieren. In Wahrheit braucht es beides.

Der Ansatz des Digitalen Humanismus ist aber sicher auch über den technischen Bereich hinaus interessant?
Durchaus, die multi- und interdisziplinäre Zusammenarbeit ist unumgänglich. Oft braucht es nicht nur In­for­ma­ti­ker:innen, sondern Jurist:innen, So­zio­log:innen, Psy­cho­log:innen, Kultur­wissen­schaftler:innen und viele andere, weil abhängig von der Themenstellung in der Regel nicht «nur» technologische Herausforderungen gemeistert werden müssen.
Denkt man beispielsweise an Datenschutz, gibt es neben der technischen Komponente Fragestellungen zu Gesetzgebungen auf nationaler und internationaler Ebene. Mit einbeziehen muss man auch Überlegungen zu «intellectual property rights», Schutz der Privatsphäre und Integrität. Auch aus pädagogischer Sicht führt das zu neuen Fragenstellungen und verlangt nach neuen Lehrmethoden. Lehrende aus unterschiedlichen Fächern sind gefragt.

An wen richtet sich das Manifest?
Als Handlungsaufforderung richtet sich das Manifest an uns alle, weil wir alle ­betroffen sind. Die Zeit war auch reif, das Thema poli­tisch und gesellschaftlich auf den Tisch zu bringen. Die Stadt Wien hat Digitalen Humanismus auch ins Regierungsprogramm mit aufgenommen. Es gibt eigene ­Förderschienen des Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds und eine eigene Gruppe inner­halb der Stadtregierung. Dabei ­werden Initiativen ­gefördert zu Themen wie ­Safer Internet und Cybermobbing oder Ausbildungen für Jugendliche aus benachteiligten Schichten unterstützt. Die Stadt Wien fördert aber auch Firmen, die sich Digital ­Humanism Roadmaps ­überlegen, wie sie mit ­Informationstechnologien und ­deren Auswirkungen in der eigenen ­Firma ­umgehen können. Auch auf europäischer ­Ebene tut sich einiges. Der Digital Service Act regelt den elektronischen Geschäftsverkehr. Der Digital Market Act enthält Rechte gegenüber Konzernen und fairen Wettbewerb für kleine und mittlere Online-Plattformen. Ein Act zur Künstlichen Intelligenz wird diskutiert. All das fällt unter die Überlegungen zum Digitalen Humanismus.

Was kann der:die Einzelne tun, um mitzugestalten?
Ich kann darüber nachdenken, ob richtig ist, was ich im Internet lese. Ich kann mir überlegen, wie Falschmeldungen entstehen und von wem ich beeinflusst werde. Warum wird, wenn ich Amazon öffne, schon vorgeschlagen, was ich kaufen soll? Wo ist der Zusammenhang? Wir können für die Gegenwart aber auch für die Zukunft Möglichkeiten und Gefahren überdenken, damit wir gewappnet sind und erst gar keine Bedrohung entsteht. Wir haben uns auch beim Autofahren Regeln zugelegt, um den Nutzen zu erhöhen, aber die Gefahr gering zu halten. Jetzt brauchen wir Sicherheitsgurte im Internet.