„Wir haben die Wahlmöglichkeit“tun & lassen

Warum Josef F. für seine Taten verantwortlich ist ...

Erzeugt Gewalt automatisch Gewalt? Ob Überlebende von Gewalt in der Kindheit wieder zu Tätern werden, hängt davon ab, ob sie sich von den Übergriffen distanzieren oder das Modell der Ausbeutung von Schwächeren übernehmen. Die Psychotherapeutin Rotraud A. Perner analysiert die Mythenbildung rund um Josef F.Das Thema Sexuelle Gewalt in der Familie wird in der Öffentlichkeit nur sehr ungern diskutiert, obwohl diese Gewalt häufig vorkommt. Woran liegt das?

Das Tabu ist die heilige Familie. Die Wunschvorstellung, daheim ist alles wunderbar, wir lieben einander, sind geduldig und fördernd, die Kinder sind brav und dankbar. Diese Ideale sind tatsächlich weitab von der Realität. Es gibt bei jedem Menschen Risikofaktoren in Richtung Gewalt. Z. B. gibt es Personen, die selbst in der Ideologie der Grausamkeit erzogen wurden, der Disziplin des Sich-unbedingt-Durchsetzen- und Bestrafen-Müssens, und die noch nicht darüber nachgedacht haben, dass es auch andere Möglichkeiten gibt. Das Tabu der Frau, die haarscharf dem Tod entgeht, indem sie misshandelt und gefoltert wird, widerspricht dem Ideal der heiligen Partnerschaft. Viele Frauen hoffen, wenn sie sich brav verhielten, dann würden sie belohnt. Das ist das alte Spiel: Hoffnung auf Belohnung, Angst vor Strafe. Man muss aussteigen aus diesem Spiel. Wenn Menschen autoritär und dogmatisch sind, dann ist das fast normal in unserer Gesellschaft … Die Durchschnitts-Germanen, wenn ich Österreicher-Deutsche nehme, sind Patriarchen, die Mein Wille geschehe zur Durchsetzung bringen. Deswegen fällt so ein Verhalten gar nicht auf. Denn es tun eh fast alle.

Die zweite Frauenbewegung thematisiert schon seit fast 40 Jahren Gewalt. Wieso ist nicht mehr öffentliches Bewusstsein entstanden?



Nicht nur die Frauenbewegung, die ganze Selbsterforschungsbewegung, die Studentenbewegung der außerparlamentarischen Opposition, waren eine Reaktion auf die Geisteshaltung des Dritten Reiches, bei der man sich mit dem faschistischen Charakter auseinander gesetzt hat und dann logischerweise schnell zur Gewalt kam. Zur staatlich sanktionierten Gewalt, bei der sich jemand auf den Staat und die Gesetze berufen kann, um seinen Sadismus auszuleben. Aber auch dahin, dass in Familie und Partnerschaften Frauen Opfer von Gewalt sind. In Bezug auf die Problematik der Ausbeutung von Frauen und Kindern durch Männer mit Dominanzanspruch trifft erst sehr spät und schleppend die Solidarität von Männern ein, die sich als Opfer von Gewalt der Polizei, des Bundesheeres oder der Kirche deklarieren. Ich mache seit vielen Jahren Schulungen für PolizistInnen und erlebe dort nach wie vor diese Mythen. Gerichtsmythen, bei denen es heißt, das Kind war anlassig, das Kind hat den Vater verführt wo die Argumente, die vor Gericht strategisch benutzt werden, um den Täter zu entschuldigen, durch Medien multipliziert werden. Das verankert sich in den Gehirnen. In den meisten Medien wird der Monstertäter dämonisiert, aber das Grundproblem, nämlich der Umgang mit sexueller oder aggressiver Erregung denn hinter den Sexualdelikten verbirgt sich oft pure Gewalt, sie wird nur an oder mit Genitalien ausgeübt wird ausgeblendet.



Wie schätzen Sie die Verteilung von Gewalt nach Geschlecht ein?

Heute schätzen wir nach Hochrechnungen, dass jedes dritte, vierte Mädchen und jeder sechste, siebte Bub Opfer von sexueller Gewalt wird. Wobei unter sexueller Ausbeutung vielfach nicht Penetration zu verstehen ist, sondern Eindringen mit Gegenständen, Zungenküsse oder manuelle Manipulationen. Von den TäterInnen her wird angenommen, dass es zwei, drei Prozent Täterinnen gibt und alle anderen Männer sind. Was uns heute so erschüttert: Wir haben eine totale Kommerzialisierung der Sexualität erlebt. Die sexuelle Befreiung war eigentlich eine kommerzielle Befreiung, und heute wird mit den technischen Möglichkeiten von Fotohandys u. Ä. vieles nur begangen, um es zu filmen und dann zu vermarkten, und da haben wir eine breite Nachfrage.

In der letzten Ausgabe des Augustin behauptete ein Autor, dass Josef F. von seiner Mutter missbraucht worden sei. Glauben Sie das?

Um so eine Behauptung aufzustellen, muss man schon ziemlich bar aller ethischen Grundsätze sein, die in die Richtung gehen, niemanden etwas zu unterstellen, wenn man es nicht beweisen kann. Und vor allem Rücksicht zu nehmen, auf die Folgen, die so eine Behauptung haben kann. Ich selbst würde so etwas nie behaupten, denn um eine Schutzbehauptung, eine Verteidigungsstrategie von einem echten Trauma unterscheiden zu können, braucht man Stunden an Gesprächen, um sich in die Person einzufühlen. Es gibt Studien von David Finkelhor, dass Männer, die selbst Gewalt erlebt haben, wenn sie sich nicht distanziert haben von den Verhaltensweisen ihrer Misshandler, wieder zu Tätern wurden. Diejenigen, die sich distanziert haben, wurden nicht zu Tätern. Das wesentliche Kriterium ist nicht, ob jemand Gewalt erlebt hat, denn das haben unheimlich viele Leute, sondern ob sich jemand von dieser Form, andere Menschen für seine Zwecke auszubeuten, distanziert oder nicht. Die Biografie des Herrn Fritzl wird derzeit nur durch die Aussagen einer Schwägerin erhellt und sollte der Gerichtsverhandlung vorbehalten bleiben. Ich finde es sehr problematisch, wenn Zeitungen, um der Geschichte wegen, solche Behauptungen und Fantasien, die durch nichts beweisbar sind, multiplizieren.

Eigentlich sollte ein erwachsener Mann für seine eigenen Taten verantwortlich sein. Aber bei jedem Frauenmörder erfolgt in den Medien ein Rekurs auf seine Mutter … Ist das nur in Österreich mit dem Bezug auf Sigmund Freud so stark?



Ab 14 Jahren ist jeder für seine eigenen Taten verantwortlich! Wir werden natürlich unsere Eltern nicht los. Ein Frauenmörder wird entweder psychotisch sein oder eine Neurose haben, die mit den Eltern zu tun haben kann. Aber bei den meisten Frauenmördern ist es so, dass sie nicht gelassen damit umgehen können, dass ihr eigenes Größenselbst nicht mit ihrer realen tatsächlichen Größe zusammenhängt. Dann haben wir die Morde an Prostituierten, die vielleicht auf Erektionsstörungen fehlreagieren, was eine narzisstische Kränkung ist. Oder eine Frau bevorzugt einen anderen Mann und will den Partner verlassen. Es kann aber auch sein, dass der Chef einen rausgeschmissen hat. Der Betroffene will jetzt seine Wut auslassen, und er wird sich nicht einen 120 Kilo schweren Hobbyboxer aussuchen, sondern eine Frau mit 60 Kilo. Bei den Delikten findet man Verbitterung oder chronischen Hass, und das kann etwas mit der realen Mutter zu tun haben, meistens hat es mit anderen Frauen und einer unreifen Persönlichkeit zu tun, aber sehr viel damit, welche Modelle oder Rollen jemand in seinem Repertoire hat, und die meisten stammen aus Film und Fernsehen und sind Modelle der Gewalt. In keinem Krimi sieht man, wie ein Konflikt anders als mit Mord und Totschlag gelöst wird. Dabei haben wir die Wahlfreiheit, wie wir uns verhalten wollen. Wenn ich mit Männern arbeite, die übergriffig auf kleine Kinder waren, dann frage ich: Was für ein Mann wollen Sie sein? Wollen Sie als einer gesehen werden, der sich nicht an erwachsene Menschen herantraut, der sich die Schwächsten aussucht?



In dem erwähnten Artikel wird Opfern unterstellt, dass sie zu Tätern werden. Müsste dann nicht jedes dritte oder vierte Mädchen Täterin sein? Gleichzeitig wird das Opfer als ewiges Opfer dargestellt, als ob es nie wieder eine Chance auf ein gutes Leben haben könnte. Dadurch wird eine Schranke erzeugt: Dort sind die Opfer in der dunklen Ecke und hier sind die anderen.

Das ist genau wieder diese Aufteilung. Gerade das ist ja das Wesentliche an der Psychotherapie, dass wir Menschen helfen, ihre biografisch erworbenen Verschaltungen im Gehirn durch neue bessere zu ersetzen, durch das Neuerleben alter Situationen mit mehr Wissen, Gelassenheit, Beistand … Natürlich bleiben die biografischen Erinnerungsspuren im Körper verankert, aber ein Baum, der verletzt wurde, weil irgendein Trottel mit einer Hacke hineingeschlagen hat in den Stamm, wächst, und irgendwann ist die Narbe nicht mehr an der Stelle wie vorher. Für einen Menschen, der zutiefst im Herzen verletzt wurde, gibt es immer die Möglichkeit des Wachstums, und wenn die Seele wächst, ist die Verletzung irgendwann nicht mehr im Herzen sondern im Wadel unten. Und dort tut sie mir nicht mehr so weh. Aber sie bleibt da. Wir haben so viele Möglichkeiten, wir haben immer die Wahl: Wer will ich sein? Die Problematik ist eben die Asozialität, der Hass, der sich in dem Satz manifestiert, warum soll ich auf irgendwen anderen Rücksicht nehmen, auf mich nimmt auch niemand Rücksicht. Dieser Hass führt dann zu diesen Menschen, ist ja wurscht; ich mache, was ich will und wie es anderen geht, ist mir egal. Da gibt es viele!



Wie würden Sie die Motive des Josef F. erklären, Menschen jahrzehntelang einzusperren und zu foltern?

Beim Josef F. erleben wir das, was wir bei vielen anderen Menschen erleben können, nämlich die Inanspruchnahme des Rechts, andere Menschen zu bestrafen und zu disziplinieren, und das kann man auch mit den Mitteln der Sexualität tun. Im Endeffekt ist es der Dominanzanspruch: Du hast das zu tun, was ich will. Ein Unterschied ist, dass Buben mit 15, 16 von zu Hause aufbrechen und nicht zurückgeholt werden. Die so genannten Braven, Devoten bleiben in der Familie. Erst ab den späten 80er Jahren erhielten wir das absolute Züchtigungsverbot der Kinder, und es wird nach wie vor geprügelt. Meistens ist es Jähzorn, und hinter Jähzorn steckt dieser Dominanzanspruch. Denn Jähzorn bedeutet nichts anderes, als dass jemand nicht gelernt hat, seine Affekte zu beherrschen. Es ist ziemlich wurscht, ob das jetzt ein Kind, eine Frau, einen Sandler, Ausländer oder alten Menschen trifft im Endeffekt hätte der, der sich stärker fühlt, eigentlich die Aufgabe, die Schwächeren zu beschützen. Aber wenn man sich nicht wirklich stark fühlt, sondern nur hofft, durch Gewalt Anerkennung zu bekommen, ist man auf einem falschen Weg, denn das macht einen nicht wirklich stärker, das bringt einen nur in den Häfen.