Mit dem Mexikoplatz erinnert Wien an den Protest des mittelamerikanischen Landes gegen den «Anschluss» Österreichs 1938
Das Gedenkprojekt «Gekreuzte Geschichten» greift diese Geschichte auf und verknüpft sie mit gegenwärtigen Fragen von Flucht und Verfolgung. Über die Fallstricke diplomatischer Noten, die Rolle der Kunst in geschichtspolitischen Auseinandersetz-
ungen und darüber, warum der Mexikoplatz heute tatsächlich so heißt, hat sich Samuel Stuhlpfarrer mit dem Kurator des Projekts Berthold Molden unterhalten.
Foto: Christopher Glanzl
Am 19. März 1938 protestiert Mexiko als einziges Land der Welt vor dem Völkerbund gegen den «Anschluss» Österreichs an Hitler-Deutschland. Wieso gerade Mexiko?
Im Wesentlichen gibt es dafür zwei Gründe. Im Gegensatz zu den meisten europäischen Regierungen gab es in der mexikanischen Regierung eine genuin antifaschistische und solidarische Haltung. Mexiko hat ja in seiner Protestnote vor dem Völkerbund sehr bewusst zwischen dem austrofaschistischen Regime unter Kurt Schuschnigg und der Bevölkerung, die nicht notwendigerweise von diesem repräsentiert werde, unterschieden. Damit ist man dem Fallstrick entgangen, eine antifaschistische, solidarische Haltung mit einem eigentlich faschistischen Staat, der Österreich vor 1938 ja auch schon war, zu üben.
Der zweite Grund beinhaltet auch ein gewisses diplomatisches Eigeninteresse Mexikos. Am 18. März 1938, also einen Tag vor der Protestnote, hat Mexiko seine Erdölindustrie verstaatlicht. Das war ein Industriezweig, der überwiegend in US-amerikanischer Hand war. Daher fürchtete die Regierung Cárdenas eine neuerliche Invasion und hatte ein Interesse daran, vor dem Völkerbund die Völkerrechtswidrigkeit des «Anschlusses» Österreichs an Hitler-Deutschland festzustellen. Im Falle, dass man selbst von einem solchen Vorgehen betroffen gewesen wäre, hätte man dann darauf verweisen können.
Wie ist die Idee entstanden, diese Geschichte nun wieder aufzugreifen?
Zunächst sollte es eigentlich nur eine Tagung in Mexiko geben, um einen mexikanischen Blick auf die jüngere, zeithistorische Forschung in Österreich einzufangen. Oliver Rathkolb und ich haben dann angeregt, auch hier vor Ort etwas zu diesem Thema zu machen. Ich habe dann gemeinsam mit vielen anderen an der Konzeption von Gekreuzte Geschichten zu arbeiten begonnen.
Zum Auftakt eures Projekts wurden vier Litfaßsäulen mit Linolschnittgrafiken von Thomas Fatzinek aufgestellt. Auch diese Installation verweist auf so eine «gekreuzte» Geschichte.
Ja, genau. Anlässlich des Weltfriedenskongresses im Jahr 1953 war nicht nur Diego Rivera in Wien, sondern auch Leopoldo Méndez. Der große mexikanische Revolutionsgrafiker traf dabei auf vier junge österreichische Künstler, nämlich Georg Eisler, Alfred Hrdlicka, Fritz Martins und Rudolf Schönwald. Die Vier waren inspiriert von dieser mexikanischen Agitprop, und die Sowjets haben ihnen ein Souterrain im 4. Bezirk zur Verfügung gestellt, wo sie dann ihre Revolutionsgrafiken herstellen konnten. Die KPÖ wiederum hat die Arbeiten als linksabweichlerisch abgetan, weshalb sie damals nicht zum Einsatz kamen. Das ganze Konvolut befindet sich heute im Haus der Moderne in Salzburg. Jedenfalls hat Rudi Schönwald mir diese Geschichte erzählt und ich fand es wahnsinnig spannend, wie mexikanische Revolutionsgrafik zur Referenz für zeitgenössische bildende Kunst in Österreich werden konnte. Dann kam Thomas Fatzinek dazu, der mit dieser Technik zuvor schon gearbeitet hatte, und so führte eins zum anderen.
Das ganze Projekt ist auf sieben Monate angelegt. Was darf man sich bis Herbst noch erwarten?
Bis Ende Oktober wird Thomas Fatzineks Plakatinstallation am Platz stehen bleiben. Derweil wird unsere Website sukzessive um Bildmaterial, Literaturverweise und weiterführende Informationen ergänzt werden. Fünf Filmemacherinnen und Filmemacher setzen sich derzeit, teils im Team, mit der eigenen Migrationserfahrung in Überkreuzung mit dem historischen Ausgangspunkt von Flucht auseinander. Diese Filme werden wir am 7. Juni präsentieren. Eine dritte Schiene verfolgt Nina Höchtl mit Julio García Murillo und einer Reihe von anderen Künstlerinnen und Künstlern aus Mexiko. Da geht es auch um gekreuzte Geschichten, allerdings eher um solche aus der mexikanischen Perspektive. Das Ergebnis wird dann im September im mexikanischen Kulturinstitut im 9. Bezirk zu sehen sein. Einzelne performative Arbeiten werden wir auch am Mexikoplatz zeigen.
Das politische Umfeld, in dem auch euer Projekt stattfindet, ist gekennzeichnet davon, dass es in Österreich erneut eine schwarz-blaue Bundesregierung gibt. Was lässt sich bis dato über den Umgang des offiziellen Österreich mit dem «Anschluss»-Gedenken sagen?
Man versucht sich progressiv zu geben, nicht ohne dass das Ganze ein wenig komisch anmutet. Beispielhaft dafür ist etwa die breite Thematisierung eines sogenannten «neuen» Antisemitismus, der als ausnahmslos «importiert» dargestellt wird und den Blick auf den genuin österreichischen Antisemitismus vollkommen verstellt.
Gleichzeitig muss man eben sagen, dass es eine ganze Reihe von geschichtspolitischen Akteurinnen und Akteuren gibt, die Akzente setzen, die überhaupt nicht im Geruch stehen, die geschichtspolitische Agenda der Regierung Kurz zu reproduzieren.
Auch wir am Mexikoplatz haben uns um eine gewisse Abgrenzung bemüht. Heinz Fischer, als ehemaliger Bundespräsident, hat zu unserer Eröffnung zwar im Namen der Republik gesprochen. Aber wir als wissenschaftlich-künstlerisches Kollektiv und auch ich als Projektleiter haben keinem einzigen Akteur und keiner einzigen Künstlerin nur irgendwelche formalen oder inhaltlichen Vorgaben gemacht. In vielen Fällen weiß ich gar nicht, was passiert, bis ich es selber sehe.
Wobei das ja auch bequem sein kann, wenn man die geschichtspolitische Auseinandersetzung in das Feld der Kunst auslagert. Wenn es Ärger gibt, ist am Ende der Künstler oder die Künstlerin verantwortlich.
Das stimmt schon, wenngleich das nicht entscheidend für unsere Konzeption war. Wir haben uns einfach überlegt, wie sich geschichtspolitische Forschungsergebnisse und Forschungsfragen am besten vermitteln lassen, und das funktioniert eben über künstlerisch-partizipative Formate sehr gut. Im Ergebnis kann das dann dazu führen, dass mitunter Positionen eingenommen werden, die der aktuellen Politik der mexikanischen oder jener der österreichischen Regierung extrem kritisch gegenüberstehen. Die mexikanische Regierung von heute ist mit der von Lázaro Cárdenas nicht zu vergleichen. Mexiko war auch nicht das Paradies für Exilierte, es gab erhebliche Restriktionen in der Einwanderung. Österreich wiederum hat einen Kanzler, dessen Karriere auf der Restriktion von Zuwanderung aufbaut. All das wollen wir auch reflektieren.
Und nebenbei thematisiert ihr den Mexikoplatz auch noch als Globalplatz?
Tatsächlich gibt es hier eine Reihe von globalen Kreuzungslinien. Der Mexikoplatz spricht die Erinnerung an den Protest an, er spricht aber implizit auch die Erinnerung an das österreichische Exil in Mexiko an. Selbst die Umbenennung des Platzes hat eine globalhistorische Dimension. Ich habe das noch nicht zur Gänze ausrecherchiert, aber meine Arbeitshypothese ist, dass es zu dieser Umbenennung einen geschichtspolitischen Kontext gibt. 1955 ziehen die Besatzungstruppen aus Österreich ab. Unmittelbar danach wird der Stalin-Platz in Schwarzenberg-Platz umbenannt und die Rote-Armee-Brücke heißt auch recht schnell wieder Reichsbrücke. Am Mexikoplatz selbst, der damals noch Erzherzog-Karl-Platz hieß, werden die beiden Obelisken, die an die Befreier der Roten Armee erinnern sollten, entfernt. Das heißt, es gibt zwar ein Interesse der sozialdemokratischen Stadtverwaltung an antifaschistischer Geschichtspolitik im öffentlichen Raum. Gleichzeitig sucht man dafür aber Bezugspunkte, die nichts mit der Sowjetunion zu tun haben. Also benennt man den Platz, der sich in unmittelbarer Nachbarschaft zur vormaligen Rote-Armee-Brücke befindet, 1956 in Mexiko-Platz um und erweist damit zwar einem im weiteren Sinne sozialistischen, einem revolutionären Land die Ehre, nicht aber einem kommunistischen. Man darf ja nicht vergessen, dass die österreichische Sozialdemokratie in ihrer ganzen Geschichte mindestens so antikommunistisch war wie die Bürgerlichen. In manchen Zeiten war sie es mehr und deklarierter als diese.
Berthold Molden ist als Zeithistoriker mit globalgeschichtlicher Perspektive in Wien tätig. Gegenwärtig arbeitet er unter anderem an der Biographie des Historikers Friedrich Katz, der mit seiner Familie im mexikanischen Exil Zuflucht vor dem Nationalsozialismus gefunden hat.
Im Zuge des Projekts Gekreuzte Geschichten. Mexikoplatz 1938–2018 wird im Juni das Filmprojekt Exiled Gaze – Der exilierte Blick präsentiert. Im September folgt die Eröffnung der Ausstellung El derecho ajeno – Das Recht des Anderen.
www.mexikoplatz.org