Musikarbeiter unterwegs … mit vielen schönen Stimmen
2012 nahm der Wiener Schmusechor seine Anfänge. 2020 sind seine Vielstimmigkeit und singkünstlerische Diversität deutlich vernehmbar. Text: Rainer Krispel, Foto: Mario Lang
Wir brauchen echte und haltbare positive Vibes. Zumal bei dieser Feelgood-Regierung zweier zunehmend selbstergriffener politischer Sekten, die ihre Inszenierungen (be)spiegeln und, tendenziell einseitig, verzerren. Atmosphäre und Gesprächsklima sind ausgesprochen gut, als die Welt, klein und groß, zugrunde geht (moralisch, klimatisch und materiell für die unrepräsentierten Massen), propagieren die Federführenden – vorerst – übereinstimmend. Das kapitalbürgerliche, strauchstreichelnde und SUV- oder radfahrende Lager ist doch nicht so schlimm, wie «ihr» immer meint, kalmieren die Wohlmeinenden allerorts selbstlos. Innere Emigration? Nie im Leben! Nicht nur ein Chor ölt die Stimmen und erhebt sie: «We shall overcome!», besser noch: «We’re gonna fight!» Lachend?
Immer wieder geht die Tür auf.
Gerade ist der Schmusechor im Probeatelier in 1070 beim Aufwärmen der Stimmen, später würde er sich unter anderem noch an Bowies Life On Mars machen, dessen Geburtstag am Tag davor war. Die Musikarbeiter Bild und Text, nominell Sänger, joinen den Spaß. Das schreibende Individuum stellt einmal mehr fest, wie sehr es genießt, etwas in einer Gruppe zu tun, dazuzugehören, teilzunehmen. Der höfliche Lichtbildner gruppiert zum Foto um. «Ihr wollt’s ja noch proben.» Immer wieder kam noch ein Sänger, noch eine Sängerin durch die Tür hinterm Vorhang, arrangiert sich der Schmusechor mit Gast neu zum Posieren. Also natürlich eine Momentaufnahme, das Foto. So wie der Schmusechor überhaupt in der Konzert- und Probenpraxis mit jenen seiner Stimmen arbeitet, die Zeit haben. Zehn bis fünfzehn sollen’s auf jeden Fall sein.
Es begann in einem Schlafzimmer.
In Vollbesetzung zählt der Schmusechor 30 Sänger_innen, leichter Frauenüberhang, informiert vorher bei Fanta und Kaffee Verena Giesinger, Gründerin und künstlerische sowie organisatorische Leiterin der (als Verein organisierten) singenden Truppe. 1987 geboren, aus Vorarlberg, kam sie zum (abgeschlossenen) Studium der Musiktherapie nach Wien. Verena wollte, seit jeher musikalisch tätig (Klavier), «immer schon in einem Chor singen». Interessant, dass bei aller Lust am Stimmverband mit längerer Verweildauer im Chor die Sehnsucht auf ein Solostück wächst, die Courage, die eigene Stimme nach vorne zu lassen, zunimmt, erzählt sie aus dem Innenleben des Herzensprojekts. Ein erster Mini-Schmusechor traf sich ab 2012 zu fünft in ihrem Schlafzimmer, «verläpperte» sich dann. 2014 waren «die richtigen Leute zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort». Der eintretende Schneeballeffekt führte dazu, dass Verenas Schlafzimmer bald zu klein war und sich der Chor vieler musikaffiner Menschen ein erstes Atelier im 6. Bezirk fand, und dazu, dass er aktuell wenigstens einmal im Monat, wenn nicht öfter, öffentlich in Erscheinung tritt und regelmäßig ein Repertoire von etwa 30 Songs pflegt. «Pop im weitesten Sinne» ist die Klammer, das reicht von Anime-Melodien über Songs von Aretha Franklin oder Feist bis hin zu Squalloscope. Ein im TAG im Dezember erlebtes Konzert war hinreißend, von Verena mit einem klaren, unprätentiösen Statement zu Frauen und ihrer immer noch mangelnden Wahrnehmung in der Musik eröffnet. Verena erwähnt in dem Zusammenhang frauendomaene.at, eine Plattform für weibliche Expertise, nicht nur in Musik. Der Name Schmusechor, in einer innigen Situation im Bett ersonnen, ist schon ein wenig Programm, «vor allem gruppendynamisch, weniger beim Material», tatsächlich ist schon das Weitergeben einer «zärtlichen Haltung zum Leben» explizit zu spüren. «Singen und Schmusen sind beide so leidenschaftliche Tätigkeiten.» Politische Statements inklusive, etwa mit einem «Abschmusen statt Abschieben»-T-Shirt oder Singen am Heldenplatz anlässlich der Ibiza-
Geschichte und dem politischen Suizid der Allerdummdreistesten dadurch.
Was, so viele?
Arrangements besorgen zum Teil Chormusiker_innen, zum Teil werden sie über eine Internetplattform in Auftrag gegeben. Beim Material haben die Stimmen natürlich Vorschlagsrecht, Verena muss aber etwas damit anfangen können. Schön sind immer wieder Geschichten wie ein wenige Tage nach der Probe anberaumtes Konzert mit dem Duo Oehl, «wo wir einfach deren Musik umsetzen können». Im Kontext von Popfestivals hat der Schmusechor oft das Gefühl, Pionierarbeit zu leisten – «was, so viele?» –, gleichzeitig ist aber großes Interesse spürbar, dem demnächst mit der professionellen Aufnahme eines Songs samt Video Rechnung getragen wird. Dazu gibt es die tätige künstlerische Nähe zum Theaterkollektiv Nesterval (nesterval.at), in Eigenregie brachte der Chor schon ein «Schmusical» ins Ateliertheater, an einem heißen Sommertag «ein großes, leidenschaftliches Schmuseerlebnis». Davon hat der wunderbare Schmusechor sicher noch einige auf Lager!
Live: 16. 5., Wilde Ehe,
18., Kutschkergasse 22.
Eröffnung musik.fest.währing
www.schmusechor.at